Abreise nach Tehran
Kein Smog in Tehran
Dienstag, 30. SeptemberDer letzte Morgen in Shiraz. Es galt, sich von der Stadt der Poesie zu verabschieden. Hafiz hatte die Stadt so geliebt, dass er ihr den Vorrang vor den Auen Edens gab und sie vielleicht darum nie verliess. In Versen wie Unvergleichlich ruhst du im Gelände oder Gärten, Blumentriften […] süss von Ambradüften drückte er Hochgefühle aus, wie sie von heutigen Shiraz-Reisenden zwar nicht so ausdrucksvoll in Worte gefasst, aber gut nachempfunden werden können. Melancholie war unser Grundgefühl an diesem letzten Morgen im September. Das mochte auch daran liegen, dass wir fürchteten, in Tehran würde uns der besonders in den letzten Tagen aufgekommene Schwebezustand abhanden kommen.
Die Maschine nach Tehran startete erst gegen Mittag. Gepackt war rasch. Offen war einzig die Frage, ob wir den Kelim und den Thermoskrug würden verstauen können. Der Behälter hatte sentimentalen Wert; er stammte von einem der Pärchen, mit denen wir uns auf der Busfahrt von Yazd nach Shiraz angefreundet hatten. Der Abschied hatte ihnen derart zugesetzt, dass sie an den Krug nicht mehr dachten. Als der Bus wieder unterwegs war, stand er dann verwaist zwischen den Sitzreihen. Wir wollten ihn dort nicht stehen lassen, war er für uns doch Zeichen für Gastfreundschaft, wie sie hier selbst während einer Busfahrt spielt. – Bis wir alles in der Velotasche und in den beiden Rucksäcken verstaut hatten, dauerte es dann doch länger als erwartet. Dass es nach einigen Packversuchen schliesslich klappte, verdankten wir auch der Tatsache, dass wir nur noch über eine kleine Zahl iranischer Banknoten-Bündel verfügten.
Auch Shiraz hat einen modernen Flughafen, mit einem Terminal, in dem mehrmals täglich jeweils um die 300 Fluggäste nach Tehran abgefertigt werden. (Für die internationalen Destinationen bräuchte es eine auch nicht annähernd so grosse Abfertigungshalle.) Wir waren früh da, aber die Leute standen und sassen schon dicht an dicht. Bequeme Sitzplätze gab’s wie gewohnt in genügender Zahl. Kaum hatten wir es uns bequem gemacht, wurden wir auf einen schlaksigen Zweimeter(oder mehr)-Mann aufmerksam, der sich, eine Sporttasche schleppend, in unsere Richtung bewegte. Er liess sie neben uns auf den Boden plumpsen und setzte sich hin. Wie er die Füsse weit von sich streckte, zeigte noch immer seine Körpergrösse. „Hi“, redete er uns an – und fuhr mit der üblichen Frageformel fort: „Where are you from?“ – Wir hatten es offensichtlich mit einem Sportler zu tun, was auch unsere Neugierde weckte. Deshalb stellten wir uns vor, informierten über die Reise und nannten die iranische Hauptstadt als unser letztes Ziel. „Ich fliege wie ihr nach Tehran – zu einem Training mit der Basketball-Nationalmannschaft.“ Ein Spitzensportler also. Bisher waren wir noch keinem Profisportler begegnet, wir hatten nicht einmal gewusst, dass neben Fussball weitere Sportarten berufsmässig betrieben werden. Die nationale Basketball-Meisterschaft, meinte er, spiele er für Shiraz, fürs Training mit der iranischen Mannschaft fliege er regelmässig nach Tehran. Er erzählte auch, dass die Iran Air auf dieser Strecke Airbusse einsetze und die Maschinen fast immer ausgebucht seien. Sein Ticket müsse er sich aber erst noch besorgen, aber das klappe schon, fügte er zu unserer Verblüffung hinzu. Wie konnte er dann so locker hier sitzen und mit uns schwatzen? Damals in Esfahan hatte der Teppichhändler im Brustton der Überzeugung behauptet, Flüge nach Tehran seien Wochen im Voraus ausgebucht. Dass wir für Ende September oder Anfang Oktober noch Tickets kriegen würden, könnten wir glatt vergessen. Und hier sassen wir neben einem, der sich eine knappe halbe Stunde vor dem Einchecken seine Flugkarte noch besorgen musste! Irgendwie erinnerte der Bursche in seiner beinahe provokativen Gemütsruhe an den Reiter in Kleists „Anekdote aus dem letzten preussischen Krieg“, der sich vom Wirt auch dann noch Branntwein einschenken lässt und seine Pfeife stopft, als seine Verfolger schon ins Dorf einreiten. Auch dieser Kerl plauderte weiter munter drauflos, obwohl die Halle inzwischen voll und bestimmt keine Flugkarte mehr verfügbar war. Knapp 30 Minuten vor dem Einschecken stand er auf, packte die Tasche, gab uns die Hand und machte sich in Richtung Ticket-Schalter davon. Dass er tatsächlich dorthin ging, war leicht zu erkennen, er überragte alle in der Halle. Wir zweifelten, dass wir ihn im Flugzeug noch einmal sehen würden. – Der Airbus war dann in der Tat rappelvoll. Kaum hatten wir unsere Sitzplätze eingenommen, kam der Riese den Gang entlang, cool wie zuvor. Bevor er sich hinsetzte, winkte er und rief sein „Hi“ in unsere Richtung. Was er uns mitteilen wollte, war offensichtlich.
Nach kaum einer Stunde waren wir am Ziel. Auch diesmal waren Getränke und ein schmackhafter Snack gereicht worden, so dass wir nach der Landung keinen Hunger hatten und uns Zeit lassen konnten für die Fahrt in die Innenstadt. (Der nationale und der internationale Airport von Tehran befinden sich am südwestlichen Stadtrand, etwa 15 km vom Stadtzentrum entfernt.) Wir wollten zum Hotel Hafiz, in den südlichen Teil der Stadt. Es gibt zweifellos wohnlichere Gegenden als diese, aber wir hatten so entschieden, weil wir hier in der Nähe der Orte waren, die wir unbedingt besuchen wollten. Das National- und das Teppichmuseum z.B. befinden sich hier, aber auch der grosse Basar.
Vor dem Weg zu Hotel hatten wir Respekt. Wir befanden in einer Stadt mit nahezu 14 Millionen Einwohnern. Wenn wir von den Distanzen in Shiraz ausgingen, wo gut 13-mal weniger Menschen leben, liess sich erahnen, wie lange wir im Taxi unterwegs sein würden. (In Tehran ist zwar eine U-Bahn im Bau, in Betrieb waren aber erst zwei vergleichsweise kurze Linien – keine mit Flughafenanschluss.) Da der Verkehr an diesem Tag weit weniger chaotisch war als befürchtet, und da Schnellstrassen durch die Stadt führen, waren wir über Erwarten rasch am Ziel. Weniger die Distanz als vielmehr das Gewirr der Einbahnstrassen war das Problem. Im Taxi mussten wir mehrere Schleifen fahren, bis es möglich war, in die Strasse einzubiegen, von der aus sich die Ferdösistrasse und damit das Hotel erreichen liess. Das sei keine gute Gegend für uns, warnte der Fahrer. Vermutlich hätte er uns lieber zu einem der grossen Hotels weiter im Norden gefahren (und eine Provision kassiert). Wir liessen uns nicht irritieren. Wenn wir bei der Hotelwahl falsch lagen, gab es in Fussdistanz weitere Hotels. Die Ferdösistrasse ist in der Tat kein Prachtboulevard; es sieht hier eher aus wie in einem stillgelegten Industriequartier. Und das Hotel Hafiz wirkte von aussen nicht besonders einladend. Wir stellten aber gleich auch das Angenehme fest, dass es hier nämlich keinen Durchgangsverkehr gibt, im Hotel also kein Strassenlärm zu hören sein würde. So schlecht, sagten wir uns, kann die Gegend nicht sein, immerhin befindet sich die deutsche Botschaft kaum 300 m entfernt. Innen präsentierte sich das Hotel dann überraschend komfortabel. Der Rezeptionist liess uns Zimmer zeigen; diese erwiesen sich als geräumig und sauber. Wir wählten ein Dreibettzimmer mit Dusche und Toilette. Es war so gross, dass wir darin auch die Fahrräder, die ja auf der Schweizer Botschaft auf uns warteten, würden abstellen können.
Sogar in Tehran hatten wir also kaum eine Stunde nach der Landung das Basislager bezogen. Aber nicht nur deswegen hatten wir nun Lust auf den ersten Erkundungsspaziergang. Auch die Vorstellungen bezüglich Verkehrslärm und stickiger Luft hatten sich zumindest für diesen Tag als falsch erwiesen. Was wir über die Stadt gelesen und gehört hatten, entsprach wenigstens heute nicht den Tatsachen. Tehran empfing uns mit spätsommerlicher Temperatur, einem offenen Himmel und angenehmer Atemluft. Keine Rede mehr davon, dass wir in Shiraz die letzte Stadtwanderung gemacht hatten.
Wir waren dann tatsächlich länger als zwei Stunden unterwegs, bewegten uns dabei bewusst nicht weiter nach Süden, also in Richtung Basar, sondern schlenderten durch Stadtteile im Nordwesten. Auf den breiten, richtungsgetrennten Strassen herrscht enormer Verkehr, und besonders der Lärm der Motorräder betäubt die Ohren. So gross wie behauptet sind aber die Unterschiede zu Tabriz, Esfahan oder Shiraz nicht. Der grösste Andersartigkeit ist eine architektonische. Da die Metropole nicht ohne weiteres in die Fläche wachsen kann, wird kompakter und um vieles höher gebaut. Die Bevölkerungsdichte ist hier deutlich grösser als etwa in Esfahan, ohne dass das – so unser erster Eindruck – zu einer verschlechterten Wohnqualität führt. Nicht auszudenken allerdings, welche Folgen hier, in der seismisch brisanten Zone, ein Erdbeben hätte.
Als wir am frühen Abend ins Hotel zurückkehrten, besassen wir einen detailgenauen, farbigen Stadtplan und hatten zahlreiche Referenzpunkte im Gedächtnis, an denen wir uns künftig orientieren konnten. (Ein Blick auf den Plan zeigte übrigens, dass wir keine nennenswerte Strecke vorangekommen waren. Zu Fuss lässt sich Tehran kaum durchwandern, selbst wenn man während Stunden unterwegs ist.) Zwischenverpflegt hatten wir uns wie bisher üblich, nämlich mit ofenfrischem iranischen Brot und Milch-Shakes. Sogar eine wissenschaftliche Buchhandlung hatten wir besucht. Dort hatte man für uns die gewünschten Lexika hervorgeholt und die iranischen Fachbegriffe für seltene ätherische Öle suchen helfen.
Hinter uns lag sozusagen die erste Bergwanderung seit Rasht (wo wir im Bergwald zu einer Burg aufgestiegen waren). Dass Tehran am Hang des Elburz-Gebirges liegt, spürten wir jedenfalls in den Beinen. Nicht dass die Hanglage im Südteil der Stadt steil wäre, aber nur quer zu ihr und bergab marschiert sich’s leicht. In nördlicher Richtung macht man beständig Höhenmeter. Eine weitere Besonderheit Tehrans sind die in der Falllinie verlaufenden offenen Kanäle. Durch sie fliesst Frischwasser direkt aus den Bergen. Ein ziemlicher Luxus in einer Stadt dieser Grösse! Im Gegensatz z.B. zu Kerman müssen in Tehran die Alleebäume nicht mittels Zisternen bewässert werden.
Aufgefallen war uns auch die mächtige Mauer um die deutsche Botschaft herum. Es scheinen hier viele Menschen mit dem Wunsch nach einem Visum Zutritt zu begehren. Die Bedingungen, wie man zu einer Einreiseerlaubnis kommt, werden draussen auf Plakaten erläutert. So lässt sich die Zahl der Chancenlosen, die hier täglich anstehen, verringern. Wir waren nun gespannt, wie sich uns anderntags die Schweizer Botschaft präsentierten würde. Da sie weit im Norden der Stadt liegt, stellten wir uns auf eine 20 km lange Bergfahrt ein.
Den Abend wollten wir u.a. dafür nutzen, uns in die Geschichte und Geografie Tehrans einzulesen. Aber zuvor testeten wir die hoteleigene Küche. Der Mann an der Rezeption hatte gesagt, wir könnten hier nicht nur frühstücken, sondern bekämen auch Lunch und Dinner serviert. Im Speisesaal befanden sich nur wenige Gäste, aber bald tauchte ein Bursche in weisser Schürze auf, der uns auf die Frage, was wir essen könnten, in die Küche kommen hiess. Die Auswahl war klein, aber eine Viertelstunde später sassen wir mit Appetit vor Schüsseln mit gebratenem Geflügel, Reis und Salat.