Ardabil - Talesh
8. Etappe: Ardabil - Astara
1. SeptemberBis nach Astara brauchten wir an diesemTag genau gleich lang wie tags zuvor nach Ardabil. Am frühen Morgen geschah uns ein ebenso komisches wie peinliches Missgeschick: Als wir, vom Wecker aus dem Schlaf geholt, aufstanden, fühlten wir uns müde, unausgeschlafen, aber wir fragten nicht nach der Ursache. Auch dass es keinerlei Verkehrslärm gab, machte uns nicht stutzig. Woran es lag, merkten wir an der Rezeption. Der Nachtportier, der bei Hoteleingang auf dem Boden schlief, blickte uns ziemlich entgeistert an, als wir ihn weckten und – jetzt doch leicht verunsichert – nach dem Frühstück fragten. Wir kamen nicht drum herum, auf die Uhr zu schauen: Es war nicht kurz nach sieben, es war kurz nach vier! Peinlich. Am liebsten hätten wir uns in Luft aufgelöst. Immerhin konnten wir uns nun einbilden, drei zusätzliche Stunden Schlaf geschenkt bekommen zu haben.
Mit dem Frühstück klappte es auch beim zweiten Versuch nicht. “Kein Problem!”, war am Vorabend die Antwort gewesen auf die Frage, ob wir um sieben Uhr frühstücken könnten. Jetzt machten wir uns halt auf die Suche nach einer Bäckerei, dazu brauchten wir nur zu schauen, wo die Leute mit den dampfenden Fladenbroten herkamen. Auch einen Laden zu finden, wo es Butter und Konfitüre gab, war einfach. Bloss auf den Tee mussten wir verzichten. Den und auch Brot, Butter und Honig hätten wir dann im Hotel haben können, als wir unsere Sachen gepackt bzw. reisefertig waren.
Von Ardabil nach Astara fährt man zuerst über eine Ebene; erst dann beginnt die Strasse zu steigen. Auch heute hatten wir Gegenwind, kamen aber gleichwohl gut voran. Wegen der paar hundert Meter Höhendifferenz machten wir uns keine Sorgen, denn in Gedanken waren wir schon auf der Abfahrt zum Kaspischen Meer. Und genau genommen mussten wir ja nicht bis auf die Passhöhe fahren. Ein Tunnel führt direkt auf die Nordseite des Alborz-Gebirges und kürzt den ehemals langen Aufstieg mächtig ab. Als die Tachos etwa die Distanz zwischen Ardabil und dem Tunnelanfang anzeigten, sahen wir vor uns die Fahrzeuge – v.a. Laster – auf eine staubige Piste abbiegen. Und in der Tat war das letzte Stück Autobahn vor dem Tunnel gesperrt. Alle Fahrzeuge mussten auf einer steilen und kurvenreichen Strecke über den Berg. Nicht der 7 km lange Aufstieg machte uns zu schaffen. Auch nicht die starke Steigung. Dafür der Staub, der das Atmen erschwerte. Trotzdem genossen wir die grossartige Landschaft. Auf dem Pass verhinderte Dunst den weiten Blick auf die Nordseite. Aber erstmals überhaupt sahen wir dichten Wald! Der faszinierende Kontrast zwischen den trockenen Süd- und dem feuchten Nordhängen aktivierte unsere Sinne. Am liebsten hätten wir gleich hier campiert.
Die 45 km lange Abfahrt brachte uns 1650 m tiefer ans Kaspische Meer. Wir liessen die Räder rollen. Dass wir trotzdem erstmals die Bremsen richtig brauchten, lag am welligen Asphalt. Velos mit schweren Packtaschen lassen sich kaum noch beherrschen, wenn sie bei Tempo 70 wie beim Rodeo durchgerüttelt werden.
Kurz vor Mittag hatten wir das Tagesziel, die kleine Grenzstadt Astara, erreicht. Der eine Teil der Stadt liegt auf iranischem, der andere auf azarbayjanischem Boden. Auf der Suche nach einem Hotel wurden wir einmal mehr zu einem «Tourist Inn» begleitet. Aber wir wählten das Hotel «Bilal» und trafen es mit dieser Wahl ausgezeichnet. Hier stimmten Komfort, Service und Preis. Bis wir das Zimmer sehen konnten, mussten wir uns ein wenig gedulden. Der Inhaber des Hotels ist ein leidenschaftlicher Brettspieler. Solange Spiel und Revanche nicht vorüber waren, kam er nicht vom Brett weg. Aber obwohl er und sein Partner rasend schnell spielten, begann er mit uns schon eifrig zu plaudern. Auch über den Zimmerpreis. Ob er jetzt 15, 20 oder 25 Dollar für das Zimmer nehme, komme ihm nicht so drauf an, ihm liege mehr an der Zufriedenheit der Gäste. (Selbstverständlich hatten wir inzwischen Tee serviert bekommen.) Als er das Spiel beendet und mit uns die Formalitäten erledigt hatte, liess er uns noch eine warme Mahlzeit kochen. Dabei war die Essenszeit vorbei. Auch den Hotel-PC mit Internetzugang durften wir benutzen. Leider konnten wir nicht auf unsere Website gelangen. Die Leitung war unterbrochen, was in der Provinz Gilan anscheinend alltäglich war. Wir fragten darum nach einer Diskette, denn wir wollten den Tagesbericht nicht ein zweites Mal schreiben. Eine halbe Stunde später war sie da. Von einem Angestellten organisiert.
Am Nachmittag begaben wir uns ans Meer. Das Wasser war sehr warm und erstaunlich sauber, so dass es uns ärgerte, die Badehosen im Hotel zurückgelassen zu haben. Junge Männer tummelten sich im Wasser. Etwas abseits sahen wir auch Frauen beim Schwimmen. In voller Kleidung, aber ohne Kopftuch! (Dank Zoom liess sich das ungewohnte Bild sogar fotografisch festhalten.) Die Männer am Strand schienen fast alle Bodybuilder zu sein. Zur Schau gestellte Muskelpakete und martialisches Gebaren verhalfen hier offensichtlich zu einem vorderen Platz in der männlichen Hackordnung. (Frauen konnte das Imponiergehabe kaum gelten, am Strand blieben die Männer unter sich.) Einem dieser Männer gehörte ein kräftiges Motorboot. Es benützte es, um Leute ins Meer hinaus und wieder zurück zum Strand zu fahren, v.a. aber um immer wieder in voller Fahrt auf zwei Schwimmer zu und haarscharf an ihnen vorbei zu preschen. Ob das Ausdruck von Aggressivität oder eine besonders geile Spass-Form war, blieb uns unklar. Mit seinem Gebaren vermieste er uns jedenfalls den ersten Kontakt mit dem Kaspischen Meer. Umso mehr genossen wir am Abend, bei nun angenehmen Temperaturen, in der Stadt das Flanieren und das Picknicken im Park. Der fröhlichen Stimmung der Leute tat auch ein kurzer aggressiver Auftritt eines Mannes keinen Abbruch. Wegen irgendwas in Wut geraten, brach er krakeelend eine Flasche entzwei und ging, sie als Waffe benutzend, auf einen anderen Mann los. Dieser, ihm mit nichts ausser einer dominierenden Körperhaltung und fester Stimme entgegentretend, brachte ihn innerhalb weniger Sekunden zur Raison. Wie erlebten die Szene wie einen Auftritt im Strassentheater. Eine Minute später war der Spuk vorbei, und wir holten im nahen Pavillon den nächsten Tee.
9. Etappe: Astara - Talesh
2. SeptemberWir starteten schon früh, um 7 Uhr. Wir wollten möglichst weit kommen, bevor uns die Hitze stoppen würde. Der Verkehr auf der Route entlang des Kaspischen Meeres ist äusserst dicht. Trotzdem ist die Strasse nur zweispurig, was uns wieder zu höchster Konzentration zwang. Das Federvieh, so stellten wir belustigt fest, kümmerte sich weder um Fahrtwind noch um den Lärm; Hühner und Enten suchten auf dem Kiesstreifen neben der Fahrbahn nach Nahrung. Nur wenn Autoreifen sie beinahe streiften, taten sie einen Hüpfer. Hunde-, aber auch Kuh- und Pferdekadaver waren aber stumme Zeugen dafür, welch grossen Tribut der Strassenverkehr ständig forderte.
Bis Talesh fuhren wir ohne Halt durch. Hier wollten wir eine längere Pause einlegen und bei der Gelegenheit den am Vortag produzierten Bericht auf die Website geben. Auf der Suche nach einem Internetcafé fanden wir uns dann überraschend in einer privaten Englischschule wieder. Ein Motorrad- und dann ein Autofahrer hatten uns hierher gelotst, weil sie anscheinend dachten, in einer Englischschule würden wir uns am besten verständigen können. Aus dem vermeintlich kurzen Stopp wurde dann ein Aufenthalt von einigen Tagen! Aber das wussten wir in diesem Moment noch nicht. Ein paar jüngere Männer winkten und riefen, wir sollten heraufkommen. So nett waren wir bisher in einem «café net» noch nie begrüsst worden. Wir stellten die Räder ins Stiegenhaus und gingen die Treppe hoch. Wir würden den Bericht ins Web stellen, mit den Leuten ein bisschen plaudern bzw. ihre Fragen beantworten – darauf schien das Ganze hinauszulaufen –, und würden trotzdem noch vor dem Mittag weiterfahren können.
Daraus wurde nichts. Oben schauten wir uns vergeblich um nach dem Raum mit den PCs. Wir standen in verschwitzten Kleidern in einer Wohnung, deren Räume als Schulzimmer genutzt wurden. Es war grad Pause. Etwa 20 jugendliche Frauen und Männer begannen sich brennend für die fremden Velofahrer zu interessieren. Jedenfalls wurden wir augenblicklich vereinnahmt. Nein, sie hätten hier keinen Internetanschluss, kamen die Lehrer uns zu Hilfe. Natürlich gebe es in der Nähe ein Internetcafé, aber wir sollten es uns doch bei ihnen erst einmal bequem machen, nachher würden sie uns den Weg zeigen. Und ohne Umschweife erklärten sie uns zu ihren Gästen. Wir sollten die Reise in Talesh unterbrechen und ihren Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, mit uns zu diskutieren. In der Stadt und ihrer Umgebung gebe es vieles zu sehen, das sie uns dann zeigen wollten. – Wir waren baff und baten vorerst um eine Verschnaufpause. Wir versuchten uns inmitten des Trubels gegenseitig abzusprechen. Sollten wir uns gleich wieder verabschieden oder konnten wir uns vorstellen, den Rest des Tages hier zu verbringen? Neugierig geworden, plädierte Manuel fürs Bleiben. In der Absicht uns zu überreden unterschieden sich Lehrer und SchülerInnen nicht voneinander. Die Lehrer wollten uns in ihre Klasse mitnehmen, damit Englisch praktisch angewendet werden konnte. Die SchülerInnen kündigten schon an, wie viele Fragen sie uns stellen wollten. Wir brachten es nicht übers Herz, sie zu enttäuschen, und wir waren, wen wundert’s, selber neugierig geworden. Die Möglichkeit, mit so vielen informationshungrigen und erzählfreudigen jungen IranerInnen zu sprechen, würde sich uns so rasch nicht wieder bieten. Auffallend war, mit welch entwaffnender Offenheit besonders die Schülerinnen mit uns redeten.
Wir konnten duschen und uns umziehen. Inzwischen waren fast alle Lehrer und SchülerInnen wieder im Unterricht. Es war Ruhe eingekehrt. Saam Sokauti, einer der jüngsten unter den Lehrern, begleitete uns zu einem winzigen Computershop, wo wir den PC mit dem Internetanschluss benützen durften, und führte uns dann gleich wieder in die Schule zurück. Er hatte uns inzwischen auch ein paar Grundinformationen vermittelt: Die Schule existiere seit vier oder fünf Jahren. Der Arbeitgeber der Lehrer sei ein Mann, der selber kaum Englisch spreche, aber über das notwendige finanzielle Potenzial verfüge, um die Schule aufzubauen. In der umfunktionierten Fünf-Zimmer-Wohnung lernten zu diesem Zeitpunkt gegen 400 Schülerinnen und Schüler in 40 Klassen Englisch. Die jüngsten seien kaum zehnjährig, die ältesten schon längst im Pensionsalter. Den Hauptharst stellten weibliche Teenager. Die SchülerInnen kämen aus allen sozialen Schichten, die meisten seien aber Sprösslinge wohlhabender Händler und Beamter. Und wo wir schlafen würden, wenn wir tatsächlich blieben, fragten wir zwischendurch. Kein Problem, der Schulmanager oder einer der Lehrerkollegen werde uns bei sich unterbringen. Über Mittag war in der Schule Ruhe. Wir konnten endlich durchatmen und überlegen, worauf wir uns einliessen. Die Lehrer hofften, dass wir drei bis vier Tage bleiben würden. Dann nämlich könnten sie uns bei praktisch allen ihren Klassen einmal dabei haben. Wir wollten uns aber so genau nicht festlegen. Diesen und den nächsten Tag aber waren wir bereit zu bleiben. Bis zu den Lektionen am späten Nachmittag blieb Zeit fürs Mittagessen und einen Ausflug ans Meer.
Das kleine Schulsekretariat wurde von einer jungen Frau geführt, die auch Englischunterricht erteilte. Für einige Minuten befanden wir uns mit ihr allein im Raum. Die schöne Frau, die bisher kein Wort gesprochen hatte, trat nun hinter ihrem Schreibtisch hervor, reichte Gerold ihr persönliches Notizen- und Adressbuch und bat ihn, er möge ihr einen Text hineinschreiben. Er solle das in seiner Muttersprache tun, sie hätte gerne etwas Persönliches zur Erinnerung an uns. Die Bitte war rührend und reizend zugleich. (Später ärgerten wir uns, weil wir es verpasst hatten, ein Foto von der Frau zu machen.) Zum Lunch gingen wir, wiederum mit Saam, ins beste Restaurant der Stadt. Hier assen wir zum ersten Mal kaspischen Fisch. (So gut hatten wir bisher in keinem Restaurant gegessen.) Zurück in der Schule wurden wir zuerst mit dem Schulmanager bekannt gemacht, dann mit einem Mann, der Saam, den Manager und uns beide in seinem Auto ans Meer mitnehmen wollte. Er wurde uns als einer der bekanntesten TV-Schauspieler Irans vorgestellt. Dass er besonders ins Soaps auftrete, wollten wir gerne glauben, unterhielt er doch auf der Fahrt, am Strand und im Wasser alle mit seinem komödiantischen Talent. (Dass er kein Wort Englisch sprach, tat dem keinen Abbruch.)
Das Schwimmen im Kaspischen Meer war ein Ereignis! Das Wasser war sauber, mindestens 25 Grad warm und ist kaum salzig. Man kann sich auf dem Wasser treiben lassen, braucht fast keine Schwimmbewegungen zu machen. Natürlich fragten wir auch nach dem berühmten Export-Produkt aus diesem Binnengewässer. Ob man irgendwo Kaviar kosten könne? In Talesh gebe es einen Verarbeitungsbetrieb für die Rogen des Störs, sagten unsere Begleiter. Aber auch, dass IranerInnen aus religiösen Gründen kein Kaviar essen dürften und dass man ihn deshalb auch nicht kaufen könne. Aber vielleicht durften wir den Betrieb besichtigen? Sie würden das abklären. Die Antwort war zögerlich. Wir merkten, dass das Geschäft mit dem Kaviar etwas geheimnisvoll Abgeschirmtes sein muss. Die Fragen danach lösten Verlegenheit aus. Wir sprachen das Thema deshalb nicht mehr an (und besuchten den erwähnten Betrieb auch nicht).
Zurück in der Schule, waren wir die Hauptattraktion in den Lektionen am frühen Abend. Wie die jungen Iranerinnen hier aufdrehten, wie sie uns mit Fragen eindeckten und dabei auch keine Hemmungen hatten, selbst ziemlich persönlichen Dinge anzusprechen, war erfrischend. Manuel und Gerold besuchten nicht dieselben Klassen, machten aber ähnliche Erfahrungen. Am Ende der 45-Minuten-Lektionen wurden wir geradezu beschworen, am nächsten Tag nicht schon wieder abzureisen. (Dabei befand sich Gerold doch auf Urlaub – von der Schule!)
Wir stellten auch unsererseits Fragen, z.B. nach den Freizeitaktivitäten der jungen Leute. Die Schülerinnen sehen häufig fern, hören Musik oder lesen Bücher. Sie beneiden die europäischen Jugendlichen, sehnen sich nach deren Freizeit-Möglichkeiten. Einige nutzen auch regelmässig das Internet. (Das bestätigte unsere Beobachtungen. In den Internetcafés hatten wir bisher immer viele Frauen angetroffen.) Es überraschte uns auch, wie fussballverrückt viele weibliche Teenager sind. Sie zeigten sich enttäuscht, dass wir über europäischen Fussball weniger wussten als sie und nichts beitragen konnten, was ihr Wissen über die Stars der französischen, italienischen und deutschen Ligen hätte erweitern können. Dafür erzählten sie ziemlich stolz, im iranischen Fernsehen könnten sie regelmässig Direktübertragungen von Spielen bekannter europäischer Clubs sehen.