Shiraz, letzter Tag
Gartenkultur, Schweizer Dialekt und eine Ethik-Debatte
Montag, 29. SeptemberVierter und letzter Tag in Shiraz. Wir hätten noch einiges anschauen können, die alte Freitagsmoschee zum Beispiel mit dem fast würfelförmigen Steinbau im Innenhof (wo wertvolle Koranexemplare aufbewahrt werden), das Grabmahl des Dichters Saadi oder eine der Gartenanlagen. Wir wollten kein gedrängtes Programm, hatten aber Lust auf Bewegung. Dass der Moloch Tehran noch einmal Anlass zu Stadtwanderungen geben würde, bezweifelten wir. Shiraz dagegen sieht schon auf dem Stadtplan beinahe wie eine Parklandschaft aus. Was lag näher als ein Streifzug durch einen bagh, einen Garten? Wir entschieden uns für den Bagh-é Eram im Nordwesten. Von hier aus konnten wir nachher versuchen, auf einen der nahen Hügel zu steigen, um die Stadt aus der Vogelperspektive anzuschauen.
Der Bagh-é Eram ist zugleich botanischer Garten der nahen Universität. Das heisst u.a., dass nicht nur fast überallhin Gehwege führen, sondern dass man auf Informationstafeln Auskunft über die Pflanzen erhält. Aufgeführt sind neben den botanischen auch die persischen und englischen Pflanzennamen. Welche von den Nadel- und Laubbäume in unseren heimischen Wäldern gibt es hier, welche nicht? Klar, dass wir weder Rot- noch Weisstannen fanden und natürlich auch keine Birken, Buchen oder Eschen. Dafür viele z.T. uralte Zypressen und erstaunlicherweise auch Lärchen, jene Bäume also, die im Spätherbst u.a. im Oberwallis für die leuchtenden Gelbtöne sorgen. Ein ziemlich grosses Areal ist ausserdem für Heckengehölze reserviert. Unglaublich, was alles zur Hecke domestiziert werden kann. Pinien z.B. und sogar Olivenbäume! Keine Überraschung dagegen war, dass mit den Granatapfelbäumen auch eine der uralten Kulturpflanzen Persiens einen hervorragenden Platz in der Baumschule bekommen hat. An den erntereifen انار (Anar auf Farsi) konnten wir nicht vorbeigehen, ohne von einem der reich behangenen Bäume wenigstens eine Frucht zu stibitzen. Wenn in der biblischen Schöpfungsgeschichte schon Eva nicht imstande war, die verbotene Frucht ungepflückt zu lassen, wie sollten wir widerstehen können? (Den Biss hinein sparten wir uns dann aber auf bis nach der Rückkehr in die Schweiz.)
Neben den baumschulähnlich angelegten Parzellen gibt es prachtvolle Gartenareale, romantische Oasen mit Fliessgewässern, Teichen, Kompositionen von Bäumen, Buschwerk, Blumen und Grasflächen. Zum Park bzw. Paradiesgarten gehört ein zauberhafter kleiner Palast aus dem vorletzten Jahrhundert. An die Hauptfassade grenzt ein Wasserbecken mit Fontäne, von wo das Wasser über einen gestuften Kanal in die tiefer gelegenen Teile des Parks abfliesst. Leider ist das Schlösschen für Besucher nicht offen, aber seine reich gegliederte, bemalte und ornamentierte Fassade spricht deutlich genug für die hier zum Ausdruck gebrachte Shirazer Lebensfreude. – Das sportplatzgrosse Areal auf der Hinterseite des Palastes schliesslich ist ein einziger Rosengarten. Wenn es auch schon spät im Jahr war, zahllose Blüten verströmten noch immer verführerischen Duft, und das Farbenspiel erinnerte an impressionistische Gemälde.
Nachher marschierten wir nach Nordosten in Richtung Korantor. Auf den gut 7 km bis dorthin durchquerten wir zwei weitere grosse Parkanlagen. Einmal begegneten wir einer Gruppe Buben, die Kaugummi verkaufen wollten. Wir begrüssten sie aus Spass auf Schweizerdeutsch. Damit weckten wir ihren Spieltrieb. Mit sichtlicher Freude sprachen sie uns nach, und zwar mit allen für unseren Dialekt typischen Lauten. Schliesslich ‚bestanden’ sie selbst den „Chuchichäschtli“-Test glänzend. Das Wort klang aus ihrem Mund wie in der Innerschweiz gesprochen. Bei so viel Spielfreude schuldeten wir ihnen für die Kaugummi einen guten Preis. Das Geld, das wir ihnen überreichten, hätte für eine Taxifahrt durch die Stadt gereicht. Noch klang ihr fröhliches Lärmen zu uns, als wir die Kaugummi schon an den nächsten Bettler weitergegeben hatten. Er hätte gerne Geld gehabt, aber die Kaugummi waren ihm lieber als nichts. Wer früher von Esfahan oder Yazd her nach Shiraz kam oder die Stadt nach Norden verliess, musste das Darvazeh Qoran
, das Korantor, passieren. Der heutige Verkehr könnte allerdings nicht mehr durchgezwängt werden. Darum musste das Tor, nachdem es tausend Jahre lang symbolische Schutzfunktion gehabt hatte, dem Ausbau der Strasse weichen. Das heute leicht versetzt am Anfang der Steigung stehende Korantor ist eine Kopie. Nur Fussgänger können noch unter ihm durchschreiten. Nach wie vor wird aber wie seit der Zeit von Karim Khan in einem Raum zuoberst ein Exemplar des Korans aufbewahrt. – Einen Kilometer entfernt erblickt der Shiraz-Reisende von einem Sattel aus ein erstes Mal das Tor und die in der Ebene sich erstreckende Stadt. Die Hügel, deren Ausläufer hier aufeinander stossen, bilden mit einer sanft abfallenden Rinne den natürlichen Weg dahin. Waren die fast kahlen Hügel rechts und links noch vor wenigen Jahren unbewohnt, wuchert die Stadt nun allmählich an ihnen empor. Nahe dem Korantor befindet sich nicht zufällig die grösste Baustelle weit und breit. Ein Ungetüm von einem Hochbau scheint direkt aus dem Fuss des Hügels herauszuwachsen. Eine Bauruine oder ein Luxushotel kurz vor der Fertigstellung? Aus der Nähe erwies es sich als Rohbau in einer für iranische Architektur unüblichen Monumentalität. (Seit den Achämeniden in Persepolis hatte man in Persien nicht mehr monumental gebaut.) Auf einem mehrstöckigen Fundament aus drei ineinander verschränkten siloartigen Rundbauten erheben sich zwei mehrstöckige pyramidale, aber nicht bis zur Spitze gebaute Wohntrakte. Obendrauf eine tellerförmigen Plattform, wahrscheinlich ein künftiger Helikopterlandeplatz. Offenbar sollten in den mächtigen Rundbauten darunter verglaste Panoramaräume entstehen. Dass sich auf der Baustelle kaum zwei Dutzend Arbeiter aufhielten, wirkte seltsam. Den Grund kannten wir bereits. Auf der Fahrt nach Persepolis hatte der Fahrer berichtet, hier habe man vor über fünf Jahren zu bauen angefangen – ohne Baubewilligung. Nach der Errichtung des Rohbaus hätten die Baubehörden einen Baustopp verhängt, und bis heute sei unklar, ob das Gebäude je als Luxushotel eröffnet werde. Zu entscheiden hat man also zwischen der teuersten Bauruine und dem spektakulärsten Kongress-Hotel im südlichen Iran.
Wir erstiegen schliesslich den Hügel gegenüber dem Rohbau-Giganten. Durch eine lichtes Kiefernwäldchen gingen wir den steilen Pfad hoch und stiessen auf zunehmend dichteren Pflanzenbewuchs. Wie das? Ganz oben löste sich das Rätsel: Es wird Wasser hochgepumpt und über zahlreiche Leitungen so verteilt, dass der sengenden Hitze nicht nur Bäume und Büsche, sondern auch Blumen zu trotzen vermögen. Einzelne Bäume sind bereits so gross, dass sie für Gehölz und Blumen natürliche Schattenspender sind. Auf dem Aussichtspunkt steht ein alter Sakralbau; Grösse und Form ähneln einer christlichen Kapelle. Von hier aus genossen wir den erhofften Blick über die Millionenstadt und auf die entfernten Allah-o Akbar-Berge. Im Dunst liess sich der südlichen Stadtrand nicht ausmachen, aber wir bekamen einen Eindruck von der Grösse der 220 qkm, auf denen sich Shiraz erstreckt.
Den Hügel, das sahen wir erst jetzt, hätten wir auch auf einer bequemen Treppe besteigen können. Der Abstieg hinunter zum Korantor war darum schnell geschafft. Nach so viel Fussmarsch nahmen wir zurück ins Zentrum ein Taxi. Seit wir vor über drei Wochen eine halsbrecherische Fahrt von Rasht nach Masuleh in einer schrottreifen Karre überstanden hatten, klassierten wir die Autos, in die wir stiegen, und rangierten sie auf einer imaginären Liste. Das taten wir auch diesmal. Wir sassen ganz offensichtlich in einem rekordverdächtigen Fahrzeug, was Art und Zahl seiner Mängel betraf. Der Pkw verfügte über wenig mehr als die notwendige Grundausstattung, bestand also aus Motor, Getriebe, Bremsen und aus etwas, das sich mit einigem Goodwill als Karosserie auf vier Rädern bezeichnen liess. Was wir von aussen als Sitzpolster identifizierten, erwies sich beim Draufsitzen als mit Tuch zugedeckte Spiralfedern. Türverkleidungen fehlten ganz. Die noch vorhandenen Teile der Fensterhebe- und Türschloss-Mechanik hatten keine Funktion mehr, gaben dem Innenraum dafür den Touch einer Tinguely-Maschine. Da die Türen klemmten, liefen wir nicht Gefahr, in den Kurven rauszufallen. Bloss schade, dass das Blech zwischen Fahrgastzelle und Motorraum noch vorhanden war. So blieb uns der Blick auf das röhrende Benzinaggregat versperrt. – Obwohl die Räder ziemlich parallel liefen, kamen wir überein, die Auszeichnung ‚Untauglichstes motorgetriebenes Vierrad-Vehikel’ für den Moment an dieses Shirazer Taxi zu vergeben. Gestützt im Entscheid wurden wir noch dadurch, dass der Fahrer eine Schleife um die halbe Stadt fuhr, um uns schliesslich auf der falschen Seite des Bazars abzusetzen.
Die imaginäre Preisverleihung verlangte nach einer passenden Verabschiedung. Wir hatten kein Münz mehr und als Noten nur noch „Khomeinis“, wollten also Herausgeld haben. Der Fahrer hatte absichtlich einen Umweg gemacht, verlangte wie erwartet statt der üblichen 500 Toman das Doppelte. In einem Kauderwelsch von Farsi und Schweizer Dialekt startete Manuel das Streitgespräch. Zu Beginn benutzte er das Adverb ‚wahrscheinlich’, aber in der im Schweizerdeutschen möglichen Lautung ‚waarschiinlich’, mit doppelter Dehnung also, womit es zu einem Ausdruck der Empörung wird. (Es handelt sich um die sprachliche Verdichtung der standardsprachlich umständlichen Formulierung ‚Kommt überhaupt nicht in Frage!’ Der Vorteil der Dialekt-Version liegt nicht nur in der Kürze. Weil sich mit dem Tonfall die Bedeutung von selbst ergibt, wird die Lautfolge fast überall auf der Welt verstanden.)
Dieser Start gab dem Streitgespräch üblicherweise den nötigen Schwung, erklärte es zugleich zum heiteren Schlagabtausch – und war meist erfolgreich. Diesmal dauerte es etwas länger, denn der Fahrer hielt dagegen. Wir äusserten Zweifel über die Fahrtüchtigkeit des Autos und gaben zu bedenken, dass eine Schleife nicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sind. Schliesslich zeigten wir uns zu einem Kompromiss bereit; wir wollten aufs Retourgeld verzichten, dafür aber die Türe (die wir inzwischen mit einem Bodycheck geöffnet hatten) mitnehmen. Dass der Taxifahrer sie behalten wollte, die 500 Toman also herausrückte, verhinderte dann zwar die Pointe, befreite uns aber von der Notwendigkeit, die Türe entsorgen zu müssen. Mit viel Lachen beiderseits beendeten wir die Szene. Das Zuschletzen der Türe besorgten wir nun mit besonderer Vorsicht. Das Gefährt sollte nicht hier auf dem Platz auseinander fallen.
(Hier soll selbstverständlich nicht den Eindruck erweckt werden, iranische Taxifahrer seien Abzocker. Die meisten von ihnen sind überaus korrekte Leute; sie geben auch kleinste Beträge als Retourgeld heraus.) Am Abend Abschiedsbesuch bei den Brüdern Fatemeh. Als wir eintrafen, waren sie beim Hauseingang am Werweissen. Der ältere hatte für die Sekretärin einen Schreibtisch gekauft, aber der erwies sich als zu sperrig für den Personenlift. Also beschlossen sie, das Möbel vorerst neben dem Eingang stehen zu lassen. Mitzuhelfen, es in den 4. Stock zu tragen, wollten sie uns Gästen nicht erlauben. Wir waren aber überzeugt, dass sie erst aufatmen würden, wenn sie es oben im Büro hatten, wiederholten darum die Bereitschaft zu helfen. Schliesslich war es Manuel, der das massive Ding fast alleine hochbuckelte. (Dass seine Blinddarmoperation nicht weit zurücklag, merkte man ihm überhaupt nicht mehr an!) Wir berieten die Brüder auch, wie sie die Möbel im Raum neu platzieren konnten. Im Gespräch stellte sich heraus, dass unser Zusammensein tags zuvor sie bezüglich des künftigen Geschäftsgangs optimistisch gestimmt hatte und sie nun einen eigentlich zu teuren Schreibtisch gekauft hatten. Es schien, dass wir der Sekretärin zu einem attraktiveren Arbeitsplatz verholfen hatten.
Bei Weintrauben und Tee setzten wir die Unterhaltung fort. Wir wollten mehr erfahren über die ungleichen Brüder. Der jüngere erzählte stolz, er sei kürzlich Vater einer Tochter geworden, und nahm dies zum Anlass, über das Singledasein des Bruders zu spotten. Gestenreich führte er aus, dass er ihn für zu ernst, zu streng und zu regelgläubig halte. Das schrecke die Frauen eben ab. Der Ältere protestierte nur wenig. Er verhehlte nicht, dass auch er gerne verheiratet wäre. Iranische Frauen, besonders solche mit guter Bildung, scheuen offenbar davor zurück, sich mit einem Mann zu verbinden, der ihnen wahrscheinlich die traditionelle Frauenrolle aufdrängt. Männer, die sich an die Normen der Geistlichen halten, bleiben womöglich länger oder überhaupt Single. – Zweifellos ist unser Gastgeber überdurchschnittlich gebildet, nimmt die Umwelt sensibel wahr und argumentiert entsprechend differenziert. Mit seiner ruhigen Art und seiner Freundlichkeit stellt er für uns bis heute ein Gegenbild dar zu rigiden Islamisten. Sein Glaube an die absolute Autorität iranischer Mullahs, insbesondere an die Unfehlbarkeit des verstorbenen Ajatollah Khomeini ergab jedoch einen irritierenden Widerspruch zu seinem breiten Wissen. Wir vermissten den Selbstdenker, den Menschen, der sich seines Verstandes ohne Anleitung eines andern bedient (wie es Kant ausgedrückt hat). Das machte eine rationale Auseinandersetzung schwierig. Wir gaben aber nicht klein bei und versuchten auch nicht, uns rasch wieder zu verabschieden (an sich hatten wir nur eine kurze Teerunde vereinbart). Aber wir lösten die Vierergruppe auf. Manuel setzte sich mit dem jüngeren Fatemeh an einen PC, während Gerold mit dem älteren am Tisch sitzen blieb und den Versuch fortführte, mit ihm zusammen einen überkonfessionellen Wertekonsens zu finden. (Letztlich ging’s um die Antwort auf die Frage, ob wir in ihm einen islamischen Philosophen bzw. Mystiker oder einen verbohrten Ideologen zu sehen hatten.)
Der ‚Softwareingenieur’ hatte einige Zeit zuvor einen CD-Brenner gekauft, kam mit ihm aber punkto Bedienung nicht zurecht. Er war froh, von Manuel den notwendigen Support zu bekommen. Ab der Festplatte lief bald einmal iranische Musik, wie wir sie bis jetzt noch nicht gehört hatten. Sie zu spielen sei eigentlich verboten. (Das lag daran, dass sich zur üblichen Melancholie auch viel Fröhlichkeit mischte.) Der ältere der Brüder zeigte sich schuldbewusst, gab aber zu, auch ein wenig stolz zu sein, dass sie auf dem PC diese Musik abspielen konnten. Musik dieser Art dürfe man nur bei besonderen Anlässen, z.B. bei Hochzeiten spielen bzw. hören. Es war Musik dabei, die zum Tanzen animierte. Auch das erklärte, warum sie öffentlich nicht gespielt werden durfte, denn auch Tanzen untersteht strengen Regeln. Männer dürfen bei Hochzeiten tanzen, Frauen nur im familiären Kreis und auch da nur für den Ehemann. Zu singen ist Frauen nur im Chor erlaubt. Trotz dieser rigiden Einschränkungen gibt es erstaunlich viel gute iranische Musik. Manuel nutzte die Gelegenheit und brannte mit einer Auswahl der Audio-Dateien, die er auf der Festplatte fand, eine MP3-CD. Leider liess sich das ebenfalls vorhandene Hochzeitsvideo, aufgenommen bei einer Massenhochzeit mit 1400 Paaren, nicht auf einen externen Datenträger bannen. Es war ein seltenes Dokument iranischer Festkultur, das u.a. Auftritte iranischer Artisten zeigte.
Mit Mohsen Doost konnte Gerold sich unterdessen über einiges verständigen, das sowohl mit europäisch-aufklärerischer als auch mit islamischer Ethik zu begründen war. Der Ingenieur argumentierte in grundlegenden Wertefragen nicht nur koranzentriert. Trotzdem gehört er z.B. nicht zu den Befürwortern eines säkularen demokratischen Staates nach westlichem Vorbild. Dass im Iran die Scharia Grundlage für die Rechtsprechung insgesamt bleiben soll, steht für ihn ausser Frage. Trotz solch grundlegender Differenzen liess sich mit ihm debattieren; er argumentierte mit ethischem Tiefgang, weit weg von Verbiesterung. Dass er im Zweifelsfall nicht auf die Vernunft, sondern auf den Koran und auf die Schriften des Ajatollah setzt, erklärt sich einerseits damit, dass die ethischen Lehren des Letzteren tatsächlich beeindrucken, andererseits auch mit seiner Faszination für geschriebene Texte. (Fatal ist, dass die Praxis unter der Herrschaft Ajatollah Khomeinis zu dessen ethischen Lehren in grossem Widerspruch standen, die Auseinandersetzung darüber aber bis heute verweigert wird.)
Am Ende schloss sich ein Kreis zum Anfang; wir kamen zurück zum Ästhetischen. Hatte Mohsen Doost Fatemeh zwei Tage zuvor uns mit der Musikalität von Hafiz’ Lyrik vertraut gemacht, so weihte er uns jetzt noch ein in Geheimnisse der arabischen Kalligrafie. Wir waren schon am Vortag auf die gemalten farbigen Wortbilder an den Wänden aufmerksam geworden, fragten aber erst jetzt nach dem Sinn der speziellen Ästhetik. „Seit dem 15. Lebensjahr übe ich mich in der Kalligrafie arabischer Schrift. Die Bilder habe ich selber gemalt, aber zur Meisterschaft habe ich es bis heute nicht gebracht.“ An Beispielen erklärte er uns, wie anspruchsvoll es ist, die arabische Schrift zu schreiben, und wie viel Übung es braucht, ihrer Ästhetik sich anzunähern. Das Geheimnis der Schönheit liege in der Anwendung des goldenen Schnitts. „Die vollendete Form ist der arabischen Schrift wesensgemäss. Dieses Ziel werde ich nicht erreichen, aber ich möchte ihm nahe kommen.“ Konnte es da verwundern, dass er sich auch sprechend nicht mit dem jeweils erstbesten deutschen Wort begnügte. Oft suchte er zwei, drei Sekunden nach dem genaueren Ausdruck – und landete dann in aller Regel einen Treffer.