Talesh
Eineinhalb Tage lang Hilfslehrer sein
3. SeptemberAls unser Gastspiel an der Schule nachanderthalb Tagen zu Ende ging, wollten sich die meisten Schülerinnen und Schüler persönlich von uns verabschieden. Mit Schülern war das einfach; sie konnten mit einem Händedruck adieu sagen. Die Mädchen und jungen Frauen mussten es anders angehen. (Muslimfrauen darf man nicht berühren, sie dürfen einem auch ihrerseits nicht die Hand geben.) Sie wünschten uns wortreich gute Reise und erbaten sich schliesslich von uns Einträge in ihre Vergissmeinnicht-Büchlein.
Zuletzt waren wir gemeinsam zu Gast gewesen in einer grossen Männerklasse. Weil draussen im Gang Leute warteten, um sich von uns zu verabschieden, wurden wir einige Male herausgerufen. Auch der Schauspieler war gekommen. Uns Grüsse ausrichten zu lassen reichte ihm nicht. Unkompliziert und direkt, wie er war, kam er herein ins Unterrichtszimmer, trat zu uns heran, umarmte uns und drückte uns Küsse auf die Wangen. Dass ihm über 20 Augenpaare verdutzt oder amüsiert zusahen, kratzte ihn kein bisschen.
Wir hatten an diesem Tag zahlreiche Klassen besucht. Es wurden an der Privatschule viel mehr Schülerinnen als Schüler unterrichtet. Viele der jungen Frauen traten selbstbewusst und offensiv auf, mit deutlich mehr Energie als die Männer. Sie scheinen bestrebt zu sein, alles Notwendige zu tun, um berufliche Perspektiven zu erlangen. (Weil die Verhaltensnormen für Frauen besonders einengend sind, bleibt den Iranerinnen nur die berufliche Laufbahn, wenn sie sich verwirklichen wollen.) Regelmässig kam es zu intensiven Gesprächen über politische, soziale und religiöse Inhalte. Einzelne Frauen nahmen kein Blatt vor den Mund. Sie nützten die Gelegenheit, erweiterten die Grenzen des sonst Üblichen und scherten sich auch kaum um Regeln. Das wurde einige Male heikel für die Lehrer. Am ersten Abend beispielsweise stoppte Sam Sokouti plötzlich eine intensiv geführte Diskussion. Statt in Englisch wandte er sich in Farsi an seine Schülerinnen. Er sprach äusserst erregt. Wir verstanden kein Wort, spürten aber seine enorme Spannung. Später erläuterte er uns, wie gefährlich die Situation für ihn geworden sei. Eine der Schülerinnen sei die Tochter eines Mannes vom Secret Service. Wenn sie zu Hause erzähle, worüber und wie offen wir hier redeten, kriege er ziemliche Schwierigkeiten.
Die Männer zeigten nicht dieselbe Spontaneität, und sie vermieden es ‚iranischen Themen’ direkt anzusprechen. (Die einzige grosse Männerklasse, die wir kennen lernten, war bezüglich Alter, beruflicher bzw. sozialer Zugehörigkeit sehr heterogen. Es sassen da junge Bankangestellte neben Studenten, Geschäftsinhabern und Männern im Pensionsalter.) Fast alle wollten sie über die Schweiz informiert werden, auch und gerade über unsere Form der Demokratie. Wir sahen uns auf einmal Staatskunde-Unterricht erteilen. Mit äusserst interessierten Schülern! Es war offensichtlich, dass wir eigentlich über die Demokratie- und Freiheitsdefizite in der Islamischen Republik Iran redeten. Mit uns über schweizerische Instrumente direkter und repräsentativer Demokratie debattierend konnten die Männer indirekt über ihr Land sprechen, ohne sich gefährlich zu exponieren. Einige präsentierten erstaunliches Wissen über unser Land. Ob sie schon vorher gewusst hatten, dass Gäste aus der Schweiz im Unterricht anwesend sein würden? Eindeutig war, dass sie die Schweiz nicht mit Schweden verwechselten. Aber sie mischten Fakten mit Wunschdenken und machten so aus der Schweiz eine Utopie, einen idealen Staat. (Auch hier sahen wir uns bestätigt in der Feststellung, dass Männer lieber Traumwelten bauen, als sich mit den Realitäten auseinander zu setzen.) Wir machten deutlich, dass wir nicht im Paradies leben. In diesem Zusammenhang sprachen wir auch über das Immigrationsproblem und zeigten auf, dass unser Land nicht der von ihnen fantasierte Idealstaat ist. Auch dass Wohlstand einem nicht geschenkt wird, sondern dass er in der Regel mittels anspruchsvoller und harter Arbeit geschaffen werden muss, vermittelten wir den Männern mit der notwendigen Deutlichkeit. – Die Diskussion war intensiv. Zwei Lehrer waren da, und sie moderierten ausgezeichnet. Niemand schien zu bemerken, dass die Unterrichtszeit längst vorüber war. Es musste uns schliesslich von draussen signalisiert werden. Lehrer öffneten die Türe und schauten verwundert zu uns herein.
Am zweiten Tag hatten uns der Manager und Sam Sokouti ein abwechslungsreiches Programm geboten. Nach den ersten Unterrichtsstunden am Vormittag hatten wir zwei Teppichhändler besucht, dann den Schulleiter in dessen Hausbank begleitet (wo er mit verschiedenen Leuten sprach und sich dabei benahm, als ob er hier seinen Arbeitsplatz hätte). Schon da wurde deutlich, dass er zur finanzkräftigen Oberschicht der Stadt gehört. Er betreibt die Englisch-Schule als ein Unternehmen neben anderen. Wie sein Vater und seine Brüder ist er ausserdem im Elektrogeräte- und Möbelgrosshandel tätig. Wir bekamen Gelegenheit, einige Läden und Ausstellungshallen des Familienunternehmens zu besichtigen. Es gab da u.a. aus Taiwan und Südkorea importierte hochmoderne Küchengeräte (in verschiedene Kältezonen unterteilte Kühlschränke zum Beispiel). Dass es im Iran eine kleine Oberschicht Neureicher gibt, wussten wir inzwischen. Besonders seit dem vergangenen Abend, als wir in der Eigentumswohnung des Schulleiters übernachtet hatten. Der Luxus hier beschränkte sich nicht auf kostbare Teppiche. Hatte sich uns von aussen ein neues, aber tristes mehrstöckiges Wohngebäude (im Rohbau stehend, mit erst einzelnen ausgebauten Wohneinheiten) präsentiert, so wähnten wir uns drin, im üppig und teuer eingerichteten Appartement, dann auf einmal in den Lebensraum eines wohlhabenden Europäers oder US-Amerikaners versetzt.
Im Vergleich zum Manager leben die Lehrer der Privatschule bescheiden. Sie unterrichten etwa 30 Lektionen pro Woche und verdienen damit insgesamt 60 Dollar. Der scheinbar niedrige Lohn muss in Relation gesetzt werden zu den Lebenshaltungskosten. Eine Familie braucht, wie bereits früher dargelegt, für den täglichen Bedarf nicht mehr als zwei Dollar. Mit einem Monatsverdienst von 250 Dollar gehören die Lehrer an der Schule demzufolge zur gut verdienenden Mittelschicht. Dass sie aber, wenn sie die Schule selber führten, ein deutlich besseres Einkommen erzielen würden, bestätigten sie selber. Warum sie stattdessen einen berufsfremden Unternehmer den Gewinn allein machen lassen, wunderte uns. Es mit Geldmangel allein zu erklären wäre zu kurz gegriffen. Von den gebildeten bzw. gut ausgebildeten Iranern denken und handeln nur wenige unternehmerisch. Sie überlassen solches einer kleinen Zahl gewitzter Geschäftsleute. Der Manager der Schule z.B. hatte nicht viel tun müssen, um sich die kleine Goldgrube zu erschliessen: ein wenig in die schulische Infrastruktur investieren und für bescheidenes Entgelt sich das Know-how einiger arbeitsloser Englischlehrer sichern. Ein unternehmerisches Risiko ging er nicht ein. Er beschäftigte genau so viele Lehrer, wie er brauchte. Inzwischen konnten wir auch die Relation zwischen Einkommen und Wohlstand bei unserem früheren Gastgeber in Tabriz ,Herrn Reza, besser deuten. Er hatte berichtet, dass er seine beiden Elektrofachgeschäfte von Angestellten führen lasse und für ihn pro Monat ein Gewinn von 1500 Dollar herausschaue. Uns hatte das wenig gedünkt, und wir hatten uns deshalb über seinen bemerkenswert hohen Lebensstandard gewundert. Umso mehr, als er uns mit der Aussage verblüffte, seit längerer Zeit arbeite er in den Läden nicht mehr selber mit. Jetzt liessen sich die Fakten besser einordnen: Im Iran ist ein Monatseinkommen von 1500 Dollar ein Vielfaches dessen, was ein gut ausgebildeter Angestellter verdient. (Ärzte in Spitälern bekommen z.B. ein Salär von höchstens 500 Dollar.)
Wir waren noch einmal am Meer gewesen, wiederum in Begleitung des Schauspielers, des Schulleiters und des jungen Lehrers Sam. (Sam war seit der Ankunft unser umsichtiger Ratgeber und Begleiter.) Ulkig war erneut, zu sehen, wie umständlich Iraner tun, wenn sie sich umziehen. Sie scheinen sich selbst ihrer eigenen Nacktheit zu schämen. Darum war es den drei Männern ein Anliegen, uns zu normgerechtem Verhalten zu veranlassen, ohne die Sache verbal zu thematisieren. Sie vermieden das für sie Peinliche, indem sie grosse Badetücher spannten und uns so gegen aussen abschirmten. Dabei war ausser uns fast niemand am Strand. Gerade mal zwei Männer badeten in der Nähe. Die in unseren Augen übertriebene Prüderie amüsierte uns. Sie hinderte uns nicht daran, im und am Wasser erneut viel Spass miteinander zu haben. Sobald unsere Begleiter die Badehosen angezogen hatten, waren sie, was das Verhalten betraf, kaum mehr wiederzuerkennen. Ihre jetzt schier kindliche Ausgelassenheit stecke auch uns an. – Bevor wir zurückfuhren, steuerte der Schauspieler den Wagen dem Strand entlang. Es wollte uns noch eine Überraschung bieten. Hier in der Nähe verbringe einer der bekanntesten und beliebtesten Schauspieler Irans in einer Strandhütte die Sommerferien. Vielleicht sei er da. Begeisterter als wir beide reagierten der Schulleiter und Sam; sie hatten den berühmten Mann bisher nur im Fernsehen gesehen. Er war tatsächlich da, begrüsste uns freundlich und stellte sich ohne Umstände zu uns für ein Gruppenbild.
Die zweite Nacht verbrachten wir im Haus von Nader Asgar. Er war einer der beiden Lehrer, welche die Diskussionsrunde mit den Männern geleitet hatten. Gleich bei unserer Ankunft war er uns aufgefallen. Er trat in der Schule unerhört bestimmt und mit kräftiger Stimme auf. Wesentlich dezidierter als der Manager. Darum hatten wir ihn zuerst für den Schulleiter gehalten. SchülerInnen bezeichneten ihn als den besten Lehrer der Schule. Mit ihm marschierten wir nun, nachdem wir uns in der Schule von allen verabschiedet hatten, den weiten Weg bis zu seinem Haus am Stadtrand. (Da wir am andern Morgen früh weiterfahren wollten, schoben wir die bepackten Räder neben ihm her. Er wäre mit dem Taxi in fünf und wir mit den Velos in zehn Minuten bei seinem Haus gewesen. Zu dritt blieb nichts anderes übrig als zu Fuss zu gehen.) Unterwegs offerierte er uns in einer Konditorei als Vorspeise Eis und Feingebäck. Der junge Mann an der Kasse kannte ihn nicht nur, er war einer seiner Schüler. Drum war es ihm eine Ehre, uns die Konsumation als Präsent zu offerieren.
Der Lehrer wohnt zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem kleinen Haus am Stadtrand von Talesh. Das häusliches Leben spielt sich ausschliesslich auf den mit Teppichen belegten Fussböden ab. Wir fühlten uns in der freundlichen und natürlichen Atmosphäre vom ersten Augenblick an wohl. Hier gab’s keinen Luxus, aber Wohnqualität. Es war zwar schon kurz vor Mitternacht, aber die betagten Eltern waren noch auf und offerierten uns ein schmackhaftes Nachtessen.
Die Asgars sind strenggläubige Sunniten. (Sie gehören damit im Iran zur religiösen Minderheit, denn die meisten IranerInnen sind Schiiten.) Das zu erfahren überraschte uns, denn wir hatten Nader Asgar in der Schule als modern denkenden, aufgeklärten Gesprächspartner kennen gelernt. Dementsprechend erwarteten wir in seinem Haus z.B. ähnlichen bürgerlichen Komfort, wie wir ihn schon ein paar Mal angetroffen hatten. Beherbergt wurden wir aber tatsächlich in einem bescheiden Heim einer beinahe asketisch lebenden Familie. Wir hatten Nader Asgar nicht für religiös gehalten. Nun erzählte er uns u.a., wie genau in seiner Familie die fünf täglichen Gebetszeiten (zwei davon in der Nacht!) eingehalten werden. (Die Sunniten sind diesbezüglich strenger als die Schiiten.)
Was wir sonst über die Lebensgewohnheiten der Familie erfuhren, beeindruckte uns. Den Ausführungen haftete nichts Fundamentalistisches an. Im Gegenteil, Natürlichkeit und Freundlichkeit der Asgars wirkten so erfrischend, dass wir es bedauerten, ihnen schon in wenigen Stunden adieu sagen zu müssen.