Teppichknüpfkunst in Kerman
Teppichknüpfkunst in Kerman
21. SeptemberWeil die kermanischen Orientteppicheebenso berühmt sind wie die aus Tabriz, wollten wir hier eine Teppichmanufaktur besuchen. Nach dem Frühstück im Akhavan erkundigten wir uns an der Rezeption nach einer Möglichkeit dazu. Das sei kein Problem, er könne uns ein Taxi rufen, das uns hinbringe. Ob wir das nicht gleich mit einem Hotelwechsel verbinden wollten, er gebe uns ein Zimmer, wie wir es angeschaut hätten, für 15 Dollar, und der Taxifahrer könne zuerst den Umzug organisieren helfen. – Was sollten wir lange überlegen; hier gingen wir ein und aus wie Hotelgäste, während wir uns im Saady nur zum Schlafen aufhielten. Und ein solches Angebot würden wir selbst im Iran nicht mehr bekommen. Warum wir das Zimmer zu diesem Preis angeboten erhielten, darüber wollten wir im Moment gar nicht spekulieren; Gästemangel gab’s hier jedenfalls nicht, das Hotel war gut belegt, auch von europäischen Reisegruppen. 20 Minuten später war der Hotelwechsel vollzogen, und wir waren unterwegs zur Teppichknüpferei.
Wir gingen da dann einfach mal rein in Gebäude bzw. in eine Halle, wo hinter- und nebeneinander zwei Dutzend Riesendinger von Knüpfrahmen aufgestellt waren. Fast alle bespannt, die meisten für Teppiche von 2.5 bis 3 m Breite. Geknüpft wurde an diesem Morgen aber nur von zwei Frauen an einem der ganz grossen Stücke. Die Mustervorlage, in die die einzelnen Knoten in der jeweiligen Farbe eingezeichnet sind, hatten sie an die Kettfäden geheftet auf Kopfhöhe vor sich. Staunen liess uns nicht nur die Behändigkeit, mit der sie die farbigen Fadenenden einknüpften und kurzschnitten, sondern auch, wie kräftig sie die Schlingen festklopften. Geknüpft wird natürlich der asymmetrische Sennehknoten. Dabei wird das Florgarn um einen Kettenfaden geschlungen, was eine dichtere Knüpfung ergibt als beim Dschuftiknoten, wo über zwei Kettenfäden geknüpft wird. Für einen einzelnen Knoten brauchten die Frauen etwa drei Sekunden. Daraus ergab sich keine Antwort auf die Frage, wie viele Knoten sie pro qcm und wie lange sie am ganzen Stück knüpften. – Die Frauen hatten nichts dagegen, dass wir sie fotografierten. Und auch die Reissfestigkeit des Florgarns durften wir prüfen (es gelang uns nicht, einen Faden zu zerreissen), aber wir durften auch nicht mal ein Ende eines Fadens an uns nehmen.
Wir betraten danach einen Raum, wo die Teppiche aufbewahrt werden. Männer waren da beim Expertengespräch, schichteten dabei Stück für Stück um. Auch wenn wir nicht verstanden, was sie diskutierten, war es für uns Anschauungsunterricht im buchstäblichen Sinn. Kein Teppich schaute aus wie der andere, und einer dünkte uns schöner als der andere. Später konnten wir uns mit einem der Männer unterhalten. Er führte uns zurück in den Knüpfsaal (hier dürften wir aber nicht fotografieren!), erläuterte einiges und beantwortete Fragen. In der Tat würden hier Teppiche der typischen Kerman-Qualität geknüpft. Grössere Stücke hätten über 10 Millionen Knoten, pro qcm seien es 70 Knoten. (Bei durchschnittlichen Orientteppiche lautet diese Zahl 30 bis 40.) Damit erklärt sich auch die massive Konstruktion der Rahmen. Um eine genügend grosse Spannung der Kettfäden zu erreichen, braucht es eine Zugkraft von mehreren Tonnen. Holzrahmen würden bersten.
An einem grossen Teppich (3.5 x 5 m) arbeiten zwei Frauen bis zu 24 Monaten. Grob gerechnet bedeutet das, dass eine Frau Tag für Tag 8 000 bis 10 000 Schlingen einknüpfen muss. Ein Teppich dieser Grösse, im Iran gekauft, kostet bescheidene 7 000 bis 10 000 Franken. (Das ist möglich, weil die Knüpferinnen für die hochpräzise und strenge Arbeit pro Monat weniger als 100 Franken verdienen.) Verkauft würden die Teppiche übrigens nicht in Kerman, sondern in Tehran.
Kurz vor Mittag, als wir unterwegs waren zu einem Laden für Kunsthandwerk, diesen aber nicht fanden, sprach uns eine hübsche, junge Iranerin an. Sie stellte sich als Gymnasiastin vor. Sie komme eben von der Schule und habe Zeit, uns behilflich zu sein, wenn wir etwas suchten. Sie zeigte eine Neugierde, wie wir sie bisher nur von Männern kannten. Auch von sich begann sie zu erzählen. Es schien ihr überhaupt nichts auszumachen, dass wir inzwischen von Männern beobachtet wurden. Im Gegenteil, es war, als ob sie ihnen Anschauungsunterricht über modernes Frauenverhalten geben wollte. Nachdem wir den Laden gefunden hatten, zu dem auch sie sich hatte durchfragen müssen, verabschiedete sie sich, schlug aber vor, uns am Nachmittag in den Basar zu begleiten. Wir hätten da viel Interessantes sicher noch nicht gesehen. Wir müssten bloss sagen, wann sie uns im Hotel abholen könne. Wir hatten uns weder verhört, noch hatte sie gescherzt. Die junge Frau trat nicht nur keck und überaus selbstbewusst auf, sondern sie setzte sich provokativ über den weiblichen Verhaltenskodex hinweg.
Im Hotelzimmer richteten wir uns zuerst einmal ein. Wir hatten ja zuvor erst das Gepäck hier abgestellt. Wir logierten jetzt so, wie es gehobenem Schweizer Standard entspricht. Hier zu wohnen hatte etwas Exklusives, umso mehr, als wir zuvor in einer Vitrine der Lobby eine kleine Skulptur gesehen hatten. Sie stand für den Preis, der dem Hotel kurz zuvor für besondere Verdienste um das Wohl touristischer Gäste verliehen worden war. Nicht etwa in Tehran, sondern in Madrid. Hatte es Tage zuvor in den unbequemen Eisenbetten des Hamadaner Spitals noch Galgenhumor unsererseits bedurft, so fühlten wir uns jetzt wie in einer orientalischen Märchenwelt. Wir genossen das Geschenk, waren uns aber bewusst, dass wir uns an den Komfort nicht gewöhnen durften. Der lächerlich tiefe Preis war vielleicht die Antwort für Manuels Dienstleistung vom Vortag. Er hatte den Hotel-Computer wieder auf Trab gebracht und dabei auch einen Teil der Software neu installiert.
Wir beschäftigten uns nun eingehender mit der Stadt und ihrer Geschichte. Kerman ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, es leben hier etwa 400 000 Menschen. (In der dünn besiedelten Provinz leben nur 1,7 Millionen Menschen.) Bis in die Gegenwart ist eine bedeutende Minderheit zoroastrischen Glaubens. Der Höhenlage von fast 1800 m, v.a. aber dem Umstand, dass ein bis 5000 m hoher Gebirgszug wie ein Riegel zwischen Kerman und der Wüste Lut steht, verdankt die Wüstenstadt das vergleichsweise angenehme Klima. Selbst im Hochsommer soll die Hitze erträglich sein.
Der Überlieferung nach soll Kerman vom Sasanidenherrscher Ardashir I. gegründet worden sein (siehe historischer Überblick). Darum wurde der Ort zuerst Beh Ardashir, später Bardashir genannt. Der heutige Name stammt aus der Safawidenzeit; er ist abgeleitet von Caramania, dem Namen, den die Region in elamischen Keilschrifturkunden hat.
Bis zum Ende der Safawidenzeit musste Kerman nur einmal eine Plünderung durch Turkmenen ertragen und erlebte darum eine Jahrhunderte dauernde Blütezeit. Die Stadt liegt an einer der wichtigsten Handelsrouten, die von In dien ins Zweistromland und an den Persischen Golf führt. Das 18. Jh. brachte dann den wirtschaftlichen Niedergang. Zuerst brachen Afghanen in die Stadt ein, später marodierende Banden. Der schlimmsten Schlag wurde Kerman aber kurz vor 1800 durch den Turkmenen Aga Mohammad Khan, den Begründer der Qadjaren-Dynastie, versetzt. Er verwüstete die Stadt, liess Zehntausende töten oder in die Sklaverei verkaufen. Er bestrafte die Einwohner dafür, dass sie während der Thronwirren Partei genommen und Khans Rivalen um den Pfauenthron Zuflucht gewährt hatten. Weil auch die folgenden Qadjaren-Herrscher hohe Strafsteuern einforderten, erholten sich die Stadt im Laufe des 19. Jh.s nur langsam. Dass sie doch wieder einen Aufschwung erlebte, lag an der Teppichherstellung bzw. dem Export der Teppiche nach Europa und in die USA sowie am Handel mit Indien.
Heute ist Kerman eine moderne Stadt. Beeindruckend ist u.a. die Grosszügigkeit, mit der hier die Plätze und Parks angelegt sind. Ein besonderes Merkmal sind die riesigen Kreisel, besonders auffällig ist der Azadi Square. Hier wird der Verkehr um einen Garten voller Blumen, Bäume und Wasserspiele herum geführt. Im Unterschied zu Hamadan begeben sich die Fussgänger beim Überqueren des Platzes nicht in Lebensgefahr. Für sie gibt es rings herum Überführungen, von denen aus sie zu jeder der sternförmig wegführenden Strassen hinuntersteigen können. Die Alleebäume werden jeden Abend von Zisternenwagen aus gewässert. Allem Anschein nach fliesen die Gebirgsquellen so reichlich, dass Kerman beinahe wie eine Oasenstadt aussieht.
Die quirlige Iranerin holte uns wie abgemacht im Hotel ab. (Selbst hier, wo man ständig Kontakt hat mit Touristen, sprach man uns später auf das Ungewohnte des Vorgangs an.) Sie marschierte mit uns den langen Weg zum Basar Vakil. Unterwegs und im Basar selbst begleitete sie uns in mehrere Metallwaren-, Stoff- und Teppichläden. Auch in den Shop ihrer Mutter – diese verkauft Damenkonfektion – konnten wir reinschauen.
Schon am Mittag waren uns im Handicraft-Laden die attraktiven, reich bestickten Tücher aufgefallen. Es wurden auch einige über 50 Jahre alte Exemplare angeboten – zu Preisen um die 300 Franken. Zum ersten Mal erwogen wir ernsthaft einen Kauf. Wir wussten, dass im Basar für gleiche Qualität einiges weniger bezahlt werden musste. Unterwegs mit der jungen Frau wurden wir nicht fündig. Zudem erstaunte uns ihre Erklärung, wir könnten hier nicht feilschen. Natürlich kannte sie die Händler, mit denen wir in Kontakt kamen, und so lag die Vermutung nahe, dass es v.a. darum ging, uns kauffreudig zu stimmen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, hatten wir zu Beginn der ‚Besichtigungs-Tour’ klar gemacht, dass wir keinen grösseren Kauf tätigen würden. Trotzdem besuchten wir auch einen kleinen Teppichladen. Ein Kerman von der Grösse 140 x 150 cm gefiel uns besonders gut; wir waren nicht mehr sicher, ob wir dem Vorsatz treu bleiben wollten. 4,2 Millionen Rial, also 700 Franken, sollte er kosten.
Seit Esfahan wussten wir, dass Händler Teppiche ins Ausland in ein Zollfreilager liefern, wo der Kunde sie abholt und auch bezahlt. Falls er das nicht tut, geht der Teppich wieder an den Händler zurück. Diesem bleiben dann die Kosten für den Hin- und Rücktransport. Das Risiko trägt der Händler, nicht der Kunde. Wir zweifelten, ob der Kleinhändler hier dies auch tun würde bzw. tun könnte – und täuschten uns nicht. Er machte jedoch einen verblüffenden Vorschlag: Wenn wir die Hälfte des Preises bar bezahlten und den Rest später aus der Schweiz überwiesen, könnten wir den Teppich jetzt mitnehmen. Das machte stutzig; es gab für den Mann hatte keinerlei Gewähr, den Restbetrag tatsächlich zu bekommen. Es hiess im Klartext, dass er das (angeblich?) alte Stück für 350 Franken hergeben wollte. Er erklärte einerseits den Preis für nicht verhandelbar, senkte ihn mit diesem seltsamen Angebot andererseits um die Hälfte.
Wenn wir den Preis um einen Drittel hätten herunterhandeln können, wären wir dem Vorsatz vermutlich untreu geworden und hätten den Teppich gekauft. So entschieden wir uns nach einigem Werweissen schliesslich dagegen. Den Spaziergang beendeten wir im Chaykhaneh-yé, im sehr speziellen Teehaus im Basar Vakil.
Wir sassen hier wie in den Teehäusern üblich auf einer Art übergrossem hölzernen Bettgestell – belegt war es mit einem Kelim, einem Teppich ohne Florknüpfung –, hatten im Rücken ein dickes Kissen und vor uns Tee, Gebäck und eine Wasserpfeife. Wir befanden uns in einem der atmosphärisch eindrucksvollsten öffentlichen Räume der Stadt. Dekor, Raumaufteilung und die Naturnähe (durch das Teehaus fliesst ein Bächlein und diesem entlang wachsen Bäumchen und Büsche) wirken, obwohl arrangiert, ebenso natürlich wie originell.
Nach einiger Zeit verabschiedete sich die junge Iranerin. Wir verzichteten auf das Angebot, sich mit ihr später ein weiteres Mal zu treffen. Ob sie uns aus reiner Neugierde begleitet oder eine bestimmte Absicht verfolgt hatte, blieb uns bis zum Schluss verborgen. Uns war es nicht unangenehm, ein wenig Zeit noch für uns zu haben, die meditative Stimmung wirken zu lassen. Bevor wir aufbrachen, kamen wir ins Gespräch mit dem Sänger, der an diesem Abend hier auftreten sollte. Nicht nur, dass er das berufsmässig mache, betonte er mit Nachdruck, sondern auch, dass er sich als besonders privilegiert betrachte.
Gesang zu Livemusik gehören fast immer zum Abendprogramm in den Teehäusern. Oft zu hören ist hier ein Musikinstrument, das in der Appenzeller Volksmusik eine wichtige Rolle spielt: das Hackbrett. In einem anderen Kermaner Teehaus sollten wir einen Tag später einen Virtuosen auf diesem Instrument hören; er spielte erstaunlich ähnlich, wie wir es von Dani Fehr von den ehemaligen »Minstrels« kennen.
Für den Rückweg nahmen wir den Bus. Wir waren schon viele Kilometer zu Fuss unterwegs gewesen und der Verlauf der Buslinie war uns inzwischen vertraut. (Innerstädtische Busse dürften übrigens die billigsten öffentlichen Verkehrsmittel überhaupt sein. Für ein Billett, das man an jeder Haltestelle kriegt, bezahlt man einen Betrag von umgerechnet weniger als einem Rappen!) – Schräg hinter uns sass ein junger Mann, der sich, kaum hatten wir Platz genommen, zu uns vorbeugte und zu flüstern anfing. Einmal mehr sollten wir Auskunft geben, wie wir über den Iran dachten. Das taten wir auch diesmal zurückhaltend und höflich, nannten Gastfreundschaft, landschaftliche und städtebauliche Qualitäten als besondere Eindrücke. Der Mann zeigte sich gar nicht zufrieden: „Sie haben ein falsches Bild vom Iran. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, in welch miserablem politischen und wirtschaftlichen Zustand sich das Land befindet.“
Der Mann tat uns gegenüber mit leiser, aber eindringlicher Stimme seine Wut kund über die seiner Überzeugung nach unhaltbare Situation. Er sprach voller Verzweiflung und Abscheu und suchte uns davon zu überzeugen, dass die junge Generation keine Zukunft habe. „Ich und praktisch alle Gleichaltrigen können nichts erreichen; es macht nicht mal Sinn, sich Ziele zu setzen.“ Seine Anklage mündete in ein Fazit, das wir nicht zum ersten Mal hörten: Er hoffe, dass die USA nach dem Irak auch den Iran angriffen. „Eine andere Chance für eine Veränderung sehe ich für mein Land nicht.“
So drastisch drücken viele junge Iraner ihre Illusionslosigkeit aus. Die Parlamentswahlen Ende Februar 2004 würden nach Meinung dieser Leute ohne Bedeutung zu sein. Daran teilzunehmen erübrige sich. Ob das Parlament nun von den konservativen oder von den reformerischen Kräften dominiert werde, das Resultat sei dasselbe: Im Iran verändere sich kaum etwas.