Van - Marqan
1. Etappe: Van - Çaldiran
24. AugustDer nunmehr letzte Stand der Information lautete, dass der direkte Weg nach Khoy nur mit dem Zug möglich war. Wir wählten also, wie wir bereits am Vorabend entschieden hatten, die Route über Dogubayazit. Wir starteten um 7 Uhr. Während der ersten 70 km führt die Strasse immer wieder an den Van-See. (Von leichten Höhenunterschieden abgesehen fuhren wir also immer auf 1650 m ü.M.) Der See ist tatsächlich von so überwältigender Grösse, wie er in jedem Atlas dargestellt ist! (Tags zuvor hatten wir schon einen Eindruck davon bekommen, als es selbst im Flugzeug lange dauerte, ihn zu überqueren.) Zweimal machten wir am See Halt; beim zweiten Mal waren keine Leute in der Nähe, so dass wir ohne Badehose schwimmen gehen konnten. Im weichen Wasser des grössten Sodasees der Welt zu schwimmen war wohltuend.
Gegen Mittag erreichten wir das Ende des Sees. Vor uns lag nun eine mehrere Kilometer lange Gerade, an deren Ende die Strasse abrupt in eine steile Bergstrecke überzugehen schien. Wir hatten aber Glück, bevor die Steigung begann, machte unsere Strasse eine 90-Grad-Kurve nach links, so dass wir auch die nächsten Kilometer auf der Ebene fahren konnten. Am Ende einer weiteren schier endlosen Gerade erreichten wir mit Muradiye endlich die erste Ortschaft nach Van. Hier konnten wir uns in einem Restaurant verpflegen. Bedient wurden wir von einem Knaben, der kaum älter als zwölf war. Wir bekamen reichlich und gut zu essen. Danach suchten wir einen Platz für eine kurze Siesta. Das war einfacher gesagt als getan, denn obwohl es genügend schattige Plätze gab, lungerten überall Jugendliche herum, die uns sofort belagerten und mit ihrem Zwei-Sätze-Englisch bombardierten: What is your name? Where are you from? Einzelne verhielten sich ziemlich dreist, aber immerhin bettelten sie nicht. – Wenigstens eine halbe Stunde konnten wir uns dann an einem Flüsschen im Schatten von Bäumen ausruhen. Als wir auch da Besuch bekamen, waren wir aber bereits im Begriff weiterzufahren.
Viele Buben halten sich tagsüber auf den Feldern auf und hüten Vieh. Abwechslung bietet ihnen nur, was sich auf der Strasse bewegt. Darum kamen sie, wenn sie uns bemerkten, oft von weit her zur Strasse gerannt, machten johlend auf sich aufmerksam und versuchten uns zu stoppen. Weil wir ihnen den Gefallen nicht taten, wurden sie wütend und begannen mit Steinen oder mit ihren Stöcken nach uns zu schmeissen.
Nach Muradiye ging’s ständig bergauf. Bald setzte auch noch kräftiger Gegenwind ein, und das Wetter verschlechterte sich zusehends. Regen kündigte sich an. Mehr als 15 km/h zeigte der Tacho nur noch selten. Die Strasse folgt hier dem Fluss, der einen tiefen Canyon in den Talboden gefressen hat. Die intensiv genutzten Viehweiden und die Getreide- und Gemüsefelder kontrastieren scharf mit den kahlen Hügelketten, die das wenige hundert Meter breite Tal begrenzen. Fahrzeugen begegneten wir kaum. Dafür mussten wir uns vor Hunden in Acht nehmen. Zweimal jagten zähnefletschende Köter so lange neben den Velos her, bis unser Keuchen etwa die Lautstärke ihres Kläffens erreichte. Dass sie nicht zubissen, war glücklicher Zufall.
Kurz bevor die Regenschauer einsetzten, erreichten wir (inzwischen durchfroren und ausgepumpt) Çaldiran. Ein einziges Hotel gibt es da - von einem Standard, über den wir besser schweigen. Immerhin waren wir im Trockenen, als es richtig schüttete. Da wir in Hotelnähe nur einen Lebensmittelladen, aber kein Restaurant fanden, kauften wir ein und kochten im Zimmer eine einfache Mahlzeit.
2. Etappe: Çaldiran - Dogubeyazit
25. AugustWir starteten auch an diesem Tag früh und konnten von Beginn weg ein gutes Tempo vorlegen. Ohne Gegenwind erreichten wir auf der Ebene – bei wieder angenehmem Wetter – während zehn Kilometern einen Schnitt von mehr als 30 km/h. Aber dann ging es während zwei Stunden nur noch bergan, einige Male so steil, dass Gerold vorne auf die kleinste Scheibe wechselte. Wir waren trotzdem überrascht, als wir nach zwei Stunden auf einem Pass standen und auf einer Tafel die Höhenangabe lasen: 2644 m.
Die nächsten zehn Kilometer konnten wir es endlich auch mal sausen lassen. Und zwar buchstäblich, denn die Kurven sind so angelegt, dass man sie auch mit 80 km/h schafft, also nicht zu bremsen braucht. Ab der zweiten oder dritten Kurve begannen wir es zu geniessen; es zeigte sich, dass die Räder dem enormen Druck standhielten. Trotzdem verlangsamten wir nach wenigen Kilometern das Tempo; es bot sich auf einmal eine Sicht, die uns schliesslich anhalten liess: Wir blickten hinunter in die riesige Ebene von Dogubayazit und hinüber zum mächtigen, mythischen Berg Ararat.
Später, unten auf der Ebene, wurde klar, dass wir auf der nicht sehr langen Abfahrt über 1000 m Höhe verloren hatten. Immerhin hatten wir bis zum Tagesziel Dogu keinen Anstieg mehr vor uns und der Ararat nahm sich noch majestätischer aus als zuvor. Wir rollten aus bis Dogubayazit und fanden da rasch, was wir suchten: ein Hotel mit sauberen, einigermassen komfortablen Zimmern zu einem fairen Preis. (Wir empfehlen es gerne weiter. Wo es genau liegt, zeigen die GPS-Koordinaten!)
Nach längerer Ruhepause machten uns auf die Suche nach einer Bank, wo wir iranisches Geld kaufen wollten. (Nach Angaben im «lonely planet» war das im Iran selber nur in wenigen Banken möglich und mit erheblichem administrativem Aufwand verbunden.) In einer Wechselstube wurden uns Rial zu einem Kurs angeboten, der viel zu hoch schien. Darum ermittelten wir über Internet den an diesem Tage gültigen Wechselkurs von Dollar zu Rial. Wir sahen nicht nur die vorherige Vermutung bestätigt, sondern stellten fest, dass wir für einen Dollar 8 000 Rial bekommen mussten, viel mehr, als wir selber erwartet hatten. Mit dieser Information gingen wir zurück zum Geldhändler und bekamen nun die Dollars zu dem Kurs gewechselt, den wir ermittelt hatten. Jetzt waren wir Rial-Millionäre. Das bedeutete jedoch auch, dass wir fortan dicke Geldbündel auf uns tragen mussten.
Wir waren hier in Dogubayazit nur noch 40 km von der iranischen Grenze entfernt; entsprechend beschäftigten wir uns in Gedanken bereits mit dem Grenzübertritt. Wir hatten einiges darüber gelesen. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Es konnte Stunden dauern, und wir mussten mit Schikanen rechnen.
3. Etappe: Dogubeyazit - Maku - Marqan
26. AugustLinks von uns immer der gewaltige Berg mit seiner Wolkenkappe, fuhren wir auf topfebener Strecke und wenig Verkehr auf die Grenze zu. Nach fünf Viertelstunden waren wir da. Als Velofahrer konnten wir an den wartenden Lastern und Autos vorbei direkt bis zum Posten nach vorne fahren - und mussten nicht mal da mit den übrigen Fussgängern anstehen. Nach kurzer Wartezeit kontrollierte der Beamte auf der türkischen Seite unsere Pässe und liess uns das Tor zum iranischen Schalter passieren. Dort standen viele Männer an; die meisten steckten Geldscheine in den Pass und reichten diesen durch die Hintertüre in den Schalterraum hinein. Sie passierten die Grenze viel rascher als die, die kein Schmiergeld zahlen konnten oder wollten und darum vor dem Schalter anstehen mussten. Einer der beiden Beamten schloss die Türe zwar immer wieder zu, als ob er weitere Bestechungsaktivitäten unterbinden wollte, aber er protestierte kein bisschen, wenn ihm wenige Sekunden später der nächste Pass durch die Türe zugesteckt wurde.
Auch wir reichten die Pässe durch diese Türe hinein – ohne allerdings Geld hineingesteckt zu haben. Gleichwohl standen wir 20 Minuten später auf iranischem Boden. Der ganze Grenzübertritt hatte weniger als eine Dreiviertelstunde gedauert. Weder hatten wir Formulare (in arabischer Schrift!) ausfüllen müssen, noch war unser Gepäck kontrolliert worden. Als Rad fahrende Schweizer Touristen wurden wir sozusagen mit einem Knicks ins Land geheissen. «Koller Merenschwand», hatte der gut gelaunte Beamte unseren Namen laut und in korrekter Aussprache aus dem Pass ‚rezitiert’ und uns damit das Tor ins Morgenland aufgestossen.
Vorsichtshalber hatten wir vor der Grenze eine lange bzw. halblange Hose über der Velohose angezogen. Die stopften wir gleich nach der Passage wieder in die Packtasche; wir wollten testen, ob wir nun auf den Velos als Sportler galten oder die immer wieder warnend genannten Kleidervorschriften einzuhalten hatten. (Tatsächlich sollten wir auf der ganzen Reise deswegen nie ein Problem haben. Selbst wenn wir uns Zwischenverpflegung kauften oder in einem Restaurant assen, brauchten wir uns nicht umzuziehen.) Jetzt sollte die Reise erst richtig losgehen. Entsprechend entschlossen fuhren wir bis Maku durch. Steigungen gab es keine zu meistern und zu unserer Überraschung nennen Strassen-Schilder die Ortsnamen sowohl in arabischer als auch in lateinischer Schrift.
Die Kleinstadt Maku, 22 km von der türkischen Grenze entfernt, liegt zwischen spektakulären Felsriegeln. Zu beiden Seiten steigen bizarr geformte senkrechte rötliche Wände 100 bis 200 m in die Höhe. Hier hatten wir den ersten Kontakt mit Iranern. Auf der Suche nach einem Restaurant wurden wir aus einem Auto heraus in Englisch angesprochen und gleich zur nächsten Verpflegungsstätte geleitet. Unser Gesprächspartner, ein etwa 49-jähriger Mann, stellte sich als Jahangari Shirzad vor. Er sei Primarlehrer und stehe kurz vor der Pensionierung. Seine Sommerferien dauerten noch bis Oktober; darum hatte er Zeit. Er ass mit uns zu Mittag (Salat und Kebab mit Reis und als Getränk Fanta), wollte viel über uns und die Schweiz wissen und beantwortete seinerseits alle unsere Fragen. Schliesslich lud er uns zu sich nach Hause ein. Das kam uns gelegen, denn wir waren doch schon ziemlich weit gefahren und wollten in der Mittagshitze nicht schon wieder auf die Velos steigen. Zudem waren wir neugierig auf den erster Kontakt mit einer iranischen Familie.
Wie wohnt ein Primarlehrer, der mit 49 schon beinahe im Pensionsalter steht? Im eigenen Haus, in grossen, hellen Räumen, mit überraschend viel Komfort. Wir bekamen gleich Tee und Früchte gereicht. Die Tochter im Teenager-Alter (die ältere Tochter studiert Medizin in Tehran) half mit ihrem Schulenglisch aus, wenn ihr Vater uns nicht ganz verstand oder selber das richtige Wort nicht fand. Die Ehefrau schien weniger erfreut zu sein über den Besuch. Spätestens als wir die Fotoalben durchblätterten, merkten wir, dass unser Gastgeber seine freie Zeit regelmässig dazu nützt, in Maku Touristen anzusprechen und sie zu sich nach Hause mitzunehmen. So kann er seinen Durst nach Kommunikation bzw. Information stillen und zugleich ein wenig von seiner Frustration abbauen, selber nicht ins Ausland reisen zu können. Die Erkenntnisse, die wir von hier mitnahmen: Mit dem Geld, das Iraner verdienen, wenn sie einen vergleichsweise gut bezahlten Job haben, lässt sich im Iran zwar gut leben, aber für Auslandreisen reicht es nicht. Vielleicht nach Azerbaijan, nicht aber in die Türkei und schon gar nicht in den Westen. Und allein der Westen interessiere sie; westeuropäische Lebensweise, aber auch einiges von unserer politischen Wertehaltung seien für viele IranerInnen, so Herr Shirzad, wichtige Orientierungspunkte. Über den politischen und wirtschaftlichen Zustand seines Landes sprach er aufgebracht, ja mit Verachtung. Im Widerspruch zur explizit vorgetragenen Wertehaltung lebt er in seiner Familie jedoch traditionell, d.h. patriarchalisch. Seine Frau trägt selbst im Haus Körper- und Kopftuch und zieht sich in ihren eigenen Raum zurück, wenn ihr Mann Fremde ins Haus bringt. Neugierig auf unsere Fotos aus der Schweiz war zwar auch sie, aber sie schaute sie sich in ihrem Zimmer an. - Stolz zeigte uns der Gastgeber die alte Schrotflinte, mit der er regelmässig auf die Vogeljagd gehe, und im Garten durften wir seine prächtig gedeihende Hanfpflanze bewundern. Er wollte uns zeigen, wie er seine Freiräume sucht in einem Land, wo die Mullahs alles tun, um westliche Lebensweisen zu verteufeln. Fast überflüssig zu erwähnen, dass derweil im Wohnzimmer eine verbotene Videoaufzeichnung lief. Das Abschiednehmen fiel Herrn Shirzad schwer. Was er von uns erhoffte, ja erwartete, formulierte er schier explizit, wenn er klagte, wie oft seine ausländischen Gäste später nichts mehr von sich hören liessen. Es war inzwischen 15 Uhr geworden. Noch immer war es heiss, aber wir wollten die 60 bis 70 km bis Margan noch hinter uns bringen. Dort hofften wir übernachten zu können; notfalls würden wir unter freiem Himmel schlafen. – Auf den ersten 30 km nach Maku dominiert die Farbe Grün. Auf bewässerten Feldern wird Intensivlandwirtschaft betrieben. Dann aber beginnt die Strasse anzusteigen; die Vegetation wird spärlicher. Erleichtert nahmen wir zur Kenntnis, dass vorerst nichts von dem geschah, wovor wir gewarnt worden waren. Wir begegneten in den Dörfern weder johlenden und Steine werfenden Kindern, noch hupten Auto- und Lastwagenfahrer, wenn sie an uns vorbeibrausten. Dafür blieb die Temperatur so hoch, dass wir noch vor Margan eine Pause einlegten. Unweit der Strasse stand da auf einmal ein kleines leer stehendes Gebäude mit einem Betonvorplatz. Und dieser Platz lag im Schatten. Wenn wir auch nicht mehr viel Wasser hatten, notfalls würden wir hier übernachten können. Manuel lag schon fünf Minuten später auf seiner Thermo-Matte und döste, Gerold begann Tagebuch zu schreiben.
Gegen 19 Uhr fuhren wir weiter. Die Temperatur war nun angenehmer, und das Dorf Margan musste unmittelbar vor uns liegen. Wir brauchten Wasser, denn was wir noch in den Behältern hatten, reichte gerade, den Durst zu löschen, nicht aber zum Kochen. Den Ort erreichten wir schneller als erwartet, aber Margan ist ein winziges Nest mit nur wenigen Lehmhäusern - ohne Infrastruktur ausser einem kleinen Lebensmittel- und Getränkeladen. Da kauften wir ein und füllten die Bidons und den Wassersack. Übernachten könnten wir hier nicht, sagte der freundliche Ladeninhaber. Es war ihm sichtlich unangenehm, uns nicht helfen zu können, und es schien, als suche er nach einer Lösung. Lieber als irgendwo zwischen gackernden Hühnern und gaffenden Jugendlichen das Zelt aufzustellen wollten wir unter freiem Himmel Abend und Nacht verbringen. Darum packten wir das Eingekaufte in die Taschen und fuhren weiter. Jetzt musste es schnell gehen, denn auf der weiten Ebene würde es nach Sonnenuntergang rasch dunkel werden. Und hier, in der Halbwüste, konnten wir nicht einfach neben der Strasse campieren. Glücklicherweise fanden nach wenigen Kilometern einen Platz, der uns zusagte. Er lag zwar nur wenig abseits der Strasse, aber ein Hügel bot Sichtschutz. Ausserdem brauchten wir bloss einige stachlige Pflanzen auszureissen, um den Koch- bzw. Schlafplatz einzurichten. Mit den Velotransportsäcken der SBB als Unterlage sollten auch die Thermo-Matten keinen Schaden nehmen. Unser Essen, Reis mit Thon, schmeckte vorzüglich, auch wenn wir, inzwischen war es stockdunkel geworden, nicht sehen konnten, was wir assen. Heisser Tee schloss das “Dinner” ab. – Unsere erste Nacht im Iran verbrachten wir also im Freien – über uns einen Sternenhimmel von beeindruckender Grösse und Leuchtkraft.