Erste Etappe

19. May, 1999

Wir langten am frühen Mittwoch-Vormittag des 19. Mai in Gilgit an. Ich hatte mir vorgenommen, noch am gleichen Tag loszufahren. Aus zeitlicher Distanz ist dies nur noch schwer nachvollziehbar. Zum einen hatte ich seit Sonntag nur eine Nacht in einem Bett verbracht und auch da der Hitze wegen schlecht geschlafen, zum andern wäre es klug gewesen, sich vor Ort über den Streckenverlauf bis zum Pass zu informieren, um die Etappen bis Kashgar vernünftig zu planen. Überhaupt hätte ein Ruhetag gutgetan. So schrieb ich dann auch erst am Donnerstagnachmittag in Karimabad wieder ins Reisetagebuch. Was ich über den ersten Tour-Halbtag festhielt, klang nicht optimistisch. Dabei stand ich unter keinerlei Zeitdruck, denn Gilgit hatte ich ohne Verzögerung erreicht. Ich hatte aber einfach das Bedürfnis, dem Lärm zu entkommen und in die Landschaft einzutauchen. Allerdings konnte ich nicht einfach aufs Velo steigen und starten. Erst musste ich die Wasserbehälter füllen und die Taschen aufs Rad packen. Und auf die Frage, ob ich in kurzer Hose fahren durfte, hatte ich noch keine Antwort. Amin Jan darauf anzusprechen, unterliess ich leider, aber sein Angebot, mich zum nahen Hotel zu begleiten, wo ich mich auf die Fahrt vorbereiten könne, nahm ich gerne an. Er erklärte dem Rezeptionisten, ich brauche bloss für kurze Zeit einen Raum, um mich frischzumachen und das Velo vorzubereiten. Der junge Mann öffnete mir ein Zimmer, nahm die Wasserflaschen entgegen und brachte sie mir wenig später gefüllt zurück. Ich konnte auch duschen. Zu bezahlen bräuchte ich nichts. Auch ein Trinkgeld wollte der Mann nicht annehmen. (Wo ich bei der Rückkehr einchecken würde, war nach dem gastfreundlichen Entgegenkommen klar.)

Um die Mittagszeit fuhr ich los. Ich hatte gegessen und glaubte ausreichend erholt zu sein (was sich bald als Täuschung erweisen sollte). Unterwegs, überlegte ich, konnte ich zur Not irgendwo rasten. Mein Ziel war der 55 km entfernte Ort Chalt. Obwohl es inzwischen heiss geworden war, fuhr ich, um kein Risiko einzugehen, in langer Hose.

Der **Karakorum Highway** (KKH) ist eine internationale [Fernstraße](https://de.wikipedia.org/wiki/Fernstra%C3%9Fe), die den Nordwesten Pakistans mit [Kashgar](https://de.wikipedia.org/wiki/Kaschgar_(Stadt)) in Westchina verbindet. Die Straße führt auf 1284 km entlang der Gebirge des Karakorum, Pamir, [Himalaya](https://de.wikipedia.org/wiki/Himalaya) und teilweise des [Hindukusch](https://de.wikipedia.org/wiki/Hindukusch) durch landschaftlich und kulturell sehr unterschiedliche Gebiete. Im Winter ist der KKH nicht durchgehend befahrbar. Der höchste Punkt der Strecke wird mit 4693 m am Khunjerab-Pass erreicht. Er markiert auch die Grenze zwischen Pakistan und China. Der KKH ist somit die höchstgelegene Fernstraße der Welt. Gemeinsam von [China](https://de.wikipedia.org/wiki/Volksrepublik_China) und Pakistan gebaut, wurde der Highway 1978 nach 20-jähriger Bauzeit fertiggestellt. Das Ganze war der häufigen Geröllrutsche an den oftmals schroffen Berghängen und der Höhe wegen eine ingenieurtechnische Herausforderung. Bei den Bauarbeiten kamen gemäss offiziellen Angaben 810 pakistanische und 82 chinesische Arbeiter ums Leben. Die ursprüngliche Schotterpiste wurde später von China verbreitert und asphaltiert. Es galt, sie auch für schwere Lkws befahrbar zu machen und die Fahrzeit von 30 auf 20 Stunden zu verkürzen. (Auf den letzten 20 km vor dem Pass war sie 1999 auf einzelnen Abschnitten noch immer Schotterpiste. Das rutschende Geröll machte diesen Streckenteil zur permanenten Baustelle. Ein mächtiger Komatsu-Trax planierte den Abschnitt ständig neu.) China wollte mit dem Ausbau den Export von Waren nach Pakistan erhöhen und mit der Anbindung an den Hafen von Karatschi auch darüber hinaus. (Inzwischen hat der KKH als Teil der neuen Seidenstrasse bauliche Veränderungen erfahren. Später mehr darüber.) Seit 1986 ist die Straße auch für den Tourismus geöffnet. Ab Kashgar führt sie als Nationalstrasse nach Ürümqi. Nach einem gewaltigen Bergsturz ins Hunzatal am 4. Januar 2010 wurden durch den aufgestauten **Attabad-See** allmählich mehr als 20 km des KKH und Teile von Dörfern unter Wasser gesetzt. Durch den ein Jahr später errichteten Überlauf konnte der Wasserspiegel abgesenkt und die Gefahr eines Dammbruchs – von dem 36 Dörfer betroffen wären – verringert werden. Erst fünfeinhalb Jahre später wurde die Umfahrungsstraße um den Attabad-See eröffnet.
Karakoram Highway in Gojal, im neuesten Ausbaustandard
Karakoram Highway in Gojal, im neuesten Ausbaustandard
Quelle: Syed Mehdi Bukhari

Die ersten hundert Kilometer auf grösseren Radtouren waren für mich immer schwierig. Auch hier war das nicht anders. Schon nach kurzer Fahrt auf dem KKH war klar, dass von angenehmer Temperatur keine Rede sein konnte. Dass ich schon bald in kleinen Gängen fuhr, weil die Strasse anstieg, störte mich hingegen nicht. Bis zum 300 km entfernten Pass war eine Höhendifferenz von 3200 m zu überwinden, von 1500 auf 4700 m ü. M. Jede erreichte neue Höhe liess sich, meinte ich, als Zwischenerfolg werten. Aber der KKH zwischen Gilgit und Chalt ist ein einziges Auf und Ab. Kaum hatte ich einen Aufstieg hinter mir, ging’s auch gleich wieder bergab. Zurück auf die Ausgangshöhe, wie mir schien. Ausserdem lud die Landschaft nicht zum Verweilen ein. Ich empfand sie als Ödnis. Dabei hätte ich es wissen können, gab doch im Reisebuch entsprechende Hinweise: Except for spring blossoms and autumn colours, the scenery around Gilgit is austere [karg] and brown. In summer it’s almost too hot for hiking near Gilgit. – Im Mai schien hier schon Sommer zu herrschen. Auch weil mich Kopfschmerzen plagten, fühlte ich mich schon nach wenigen Kilometern schlapp. Die Bergkulisse nahm ich kaum wahr, dafür die einzig vom Asphaltband des KKH und dem bleigrauen Hunza River durchbrochene Steinwüste. Ich hatte zu Beginn nur Augen fürs vermeintlich Hässliche. In langer Hose zu fahren, erwies sich als weiteres Handikap. (Ab dem zweiten Tag an fuhr ich nur noch in kurzer Velohose. Und hatte damit nie Probleme.)

Im Gebiet zwischen Gilgit und Chalt gibt es durchaus Vegetation. In regelmässigen Abständen folgen sich baumbestandene Oasen Eine davon wollte ich für einen Zwischenhalt nutzen. Ich lehnte das Velo an einen Baum und streckte mich im Schatten aus. Nach kaum zwei Minuten tauchten hinter entfernteren Baumstämmen Gesichter auf. Kindergesichter. Ich sah mich von neugierigen Blicken umstellt. Natürlich ist eine Oase auch meist bewohntes Gebiet, aber gleichwohl war es rätselhaft, warum die Kinder mich so rasch entdeckten. Sie hielten zwar respektvollen Abstand, aber erholen

konnte ich mich unter Beobachtung nicht. Ich schob das Rad auf die Strasse zurück und fuhr weiter.

Das Dorf Chalt hatte ich nicht nur deshalb als erstes Etappenziel gewählt, weil es nicht weit entfernt ist von Gilgit, sondern auch wegen der Lage und der Vegetation. Chalt liegt an der Mündung zweier breiter Talsysteme (der Hunza River biegt hier nach Süden ab) inmitten einer Oase und wird gerühmt als more beautiful than any other valleys in the Gilgit Agency. Ich schaffte es an diesem Nachmittag jedoch nicht bis dorthin, auch wenn die weiteren Versuche, Pausen einzulegen, wie der erste endeten. Kaum hatte ich mich irgendwo ausgestreckt, sah ich mich Kinderblicken ausgesetzt. Eine rührende Ausnahme gab es. Anscheinend war ich während eines Zwischenhalts kurz eingeschlafen. Als ich mich wieder aufsetzte, stand neben mir eine mit Maulbeeren gefüllte Obstschale. Jemand, vermutlich ein Kind, musste sie hingestellt haben. Zwar wusste ich zuerst nicht, was es für Früchte waren. Sie erinnerten äusserlich an längliche Brombeeren, waren jedoch nicht blau-schwarz, sondern hell, fast weiss. Sie schmeckten etwas fade, erfrischten aber. Mehr als ein paar Handvoll ass ich trotzdem nicht. Auch der Kopfschmerzen wegen. Merkwürdig war nicht nur das Präsent, sondern auch, dass ich nirgends ein Gesicht sah. Gerne hätte ich mich bedankt. Vermutlich wurde ich vom unsichtbaren Überbringer beobachtet.

**Maulbeere**: Die Früchte von drei Arten sind essbar. Die der Weissen Maulbeere sind cremefarben, andere sind über rot bis zu schwarz. Es gibt sehr süsse und saftige Früchte; die der Roten und Schwarzen Maulbeere sind intensiver im Geschmack und aromatischer. Sie reifen nach und nach im Laufe mehrerer Wochen und können darum nicht gleichzeitig geerntet werden. In manchen Ländern legt man Tücher aus und schüttelt die Bäume, so dass die reifen Früchte herabfallen. – Da sie schnell verderben, lassen sie sich kaum vermarkten. Ursprünglich war die Maulbeere über die subtropischen Regionen der Nordhalbkugel verbreitet, nicht jedoch in Europa. In Regionen, die sich zum Weinbau eignen, lassen sich auch Maulbeeren anbauen. (Quelle: Wikipedia)

Die Maulbeer-Episode war der Lichtblick dieses Nachmittags. Darum ärgerte es mich dann auch nicht, dass ich nur wenig mehr als 40 km schaffte. Ein Bett in einer Herberge und ein richtiges Essen, beides wäre willkommen gewesen, aber nun konnte ich ein erstes Mal ausprobieren, wie es sich im Freien übernachten liess. Ich fand unweit der Strasse einen Sandplatz. Weil es noch hell war, breitete ich das Zelt vorerst bloss am Boden aus. (Ich wollte sichergehen und nachts keinen ‘Besuch’ haben.) Das mitgeführte Wasser schmeckte ungewohnt – vermutlich hatte ich zu viel Betadin hineingetan. Abgekocht und als Milchkaffee (Milch- und Kaffeepulver hatte ich dabei) oder Tee getrunken, war es gut. Hunger verspürte ich nicht, ass aber gleichwohl eine Wurst. Als es zu dämmern begann, fuhr ein Lastwagen vorbei. Die Männer auf der Ladebrücke konnten mich von der Strasse aus sehen. Sie winkten und johlten zu mir herüber.

Erstes freies Campen am KKH
Erstes freies Campen am KKH

Weil es warm blieb und nicht nach Regen aussah, spannte ich das Zelt nicht auf. Ich legte mich im Schlafsack auf die mit einer Thermomatte ergänzte Unterlage. In der Dunkelheit war nirgends ein Licht zu sehen, und ausser dem Rauschen des Flusses hörte ich nichts. Ich schlief gut, erwachte aber schon im Morgengrauen. Vom bedeckten Himmel fielen auf einmal Tropfen. Was sollte ich tun? Das Zelt doch noch aufspannen und hineinkriechen oder das Lager abbrechen und fahren? – Ich tat beides; ich spannte das Zelt kurz auf und gleich wieder ab, denn es schien beim Tröpfeln zu bleiben.

Vorerst fuhr ich bei leichtem Gegenwind ziemlich gemächlich. Schon bald drehte der Wind, die Strasse trocknete ab, und in der Morgenfrühe herrschte ideale Temperatur. Abgesehen von ein paar Steigungen war die Strasse flach, so dass ich ein gutes Tempo fahren konnte, ohne mich zu verausgaben. Chalt liess ich links liegen, weil nun Karimabad mein Tagesziel war. In der Nähe von Chalt machte ich allerdings erstmals Rast, bei einer Teebude direkt an der Strasse. (Teeküchen sollten ab da bis nach Sost zu meinen bevorzugten Raststellen werden.) Und was der junge Mann mir einschenkte, war vorzüglich. Ich trank drei Tassen eines mit Wasser und Milch zubereiteten Schwarztees (zur Teezubereitung später mehr) und bezahlte dafür umgerechnet keine zehn Rappen. Bis Karimabad brauchte ich nie Wasser aus einem Bidon zu trinken. Die Teebuden folgten in regelmässigen Abständen.

Auch in Alia Bad betrieb ein junger Mann einen Kiosk. Neben Tee, Softgetränken (besonders Sprite) und Snacks bot er auch Mineralien, insbesondere Quarzkristalle an. Die suche er während der Wintermonate. (Da er einigermassen Englisch sprach, konnten wir miteinander plaudern.) Er erzählte einiges über sich. Unter anderem, dass er deshalb den Kiosk betreibe und von Zeit zu Zeit Mineralien suche, weil es zwischen Gilgit und Sost keine andere Erwerbsarbeit gebe.

Auch an diesem Tag machte ich Erfahrung mit Kindern. Ich war zu der Tageszeit unterwegs, als in den Dörfern Kinder (in Schuluniformen) auf dem Schulweg waren. Kaum erblickten sie mich, begannen sie im Chor Pen, Pen, Pen! zu schreien. Als ob sie es eingeübt hätten. Kugelschreiber als Verteilgeschenke hatte ich nicht dabei, so dass es beim Wünschen blieb. Bei der Zahl der gestikulierenden und schreienden Buben wäre es mir auch nicht geheuer gewesen anzuhalten. (Auch Mädchen waren da, aber sie schauten bloss.) Einmal, als ich auf ansteigender Strasse langsamer fahren musste, rannten ein paar Buben hinter mir her und versuchten nach den Radtaschen zu greifen. Einer zerrte sogar an den Kordeln der Reissverschlüsse, so dass ich kräftig in die Pedale treten musste, um ihn abzuschütteln. Glücklicherweise waren die Schieber der Verschlüsse so platziert, dass keine Tasche aufging. Nicht auszudenken, wenn die Bengel Dinge wie den Fotoapparat herausgezerrt hätten. Ab jetzt packte ich solches zuunterst in die Taschen.

Das war der einzige Schreckensmoment an diesem Tag. Ich fühlte mich gut und kam prächtig voran, so dass ich bereits am späten Vormittag vom KKH auf das steile Strassenstück nach Karimabad hinauf einbiegen konnte.