Pamir-Hochebene, Tashkurgan und Karakol-See

24. May, 1999
In Pirali geht die Gebirgslandschaft des Karakorum über ins Pamirgebirge. Hier ein typischer Pamirgebirgszug.
In Pirali geht die Gebirgslandschaft des Karakorum über ins Pamirgebirge. Hier ein typischer Pamirgebirgszug.
Quelle: Piero d'Houin Inocybe

Am Morgen des 24. Mai lagen draussen einige Zentimeter Schnee. Ich hatte wiederum gesund geschlafen; der Schlafsack hatte mich gegen die Kälte bestens geschützt. Die einzige Störung war von den durchs Gebäude streifenden Hunden ausgegangen. Sie waren nahe herankamen, hatten aber keinen Lärm gemacht und sich problemlos wegscheuchen lassen. Angst hatte ich zu keinem Zeitpunkt gehabt.

Auf der Fahrt nach Tashkurgan trug ich ausser der regenfesten Jacke Mütze, Handschuhe, Schal und sogar Schuhüberzüge, kurz, alles, was ich gegen Kälte und Nässe dabeihatte. Auf der Strasse war der Schnee nicht liegen geblieben, so dass einzig Gegenwind, Nässe und Kälte störten. Auf den ersten 50 Kilometern kam ich entsprechend langsam voran. Allmählich wurde es wärmer, und der Wind flaute ab. An sich baut man zwischen Pirali und Tashkurgan 900 m Höhe ab, aber diese verteilen sich so gleichmässig auf die Strecke, dass ich kaum je den Eindruck hatte, als befände ich mich auf einer schiefen Ebene; vielmehr dünkte es mich eine Fahrt durch topfebenes Gebiet.

Da Petra und Achim wiederum ihr eigenes Tempo fahren wollten, hatte ich mich am Morgen von ihnen verabschiedet. Achim hatte sich, so schien mir, vom Schock erholt. Jedenfalls würde die Bisswunde beim Fahren nicht stören. – Nach 70 km machte ich an einem Bewässerungskanal erstmals Halt. Einerseits wollte ich einen Teil der wärmenden Überzüge ausziehen, andererseits hatte ich Lust auf ein paar Nüsse und Datteln sowie auf einen Landjäger. Nicht zum ersten Mal war ich froh, dass ich dem Rat in der Murianer Metzgerei gefolgt war. Die geräucherte Rohwurst aus Rindfleisch und Speck schmeckte mir gerade in dieser Landschaft besonders gut. Sie zu essen war auch eine Wohltat fürs Gemüt.

Weil ich an diesem Tag keine Eile hatte – Tashkurgan würde ich erreichen, ohne mich zu sputen –, erlebte ich die Landschaftseindrücke nach der Rast als besonders intensiv. Die vom Pamir1 begrenzte Hochebene ist gerade wegen ihrer Kargheit beeindruckend. Auf den ersten zwanzig Kilometern nach Pirali scheinen die Ebenen fast vegetationslos. Umso faszinierender sind die wechselnden Brauntöne. (Der gefallene Schnee war im Verlaufe des Vormittags auf der ganzen Ebene weggeschmolzen.) Die Unterschiede zum Karakorum sind frappant. Keine steilen Bergflanken und hoch aufragende Gebirgsspitzen mehr; stattdessen sanft ansteigende Hügel, die allmählich in vergletscherte steilere Berge übergehen. Die gegen Tashkurgan hin markant höheren Gebirgsketten erheben sich weit jenseits der Ebene. Zu beiden Seiten der Strasse und des Flusses breiten sich Graslandschaften aus, wo Pferde, Kamele und Yaks weiden. (Die Felder waren gemäss meiner Vermutung so grün, weil sie beim Bewässern regelrecht überflutet wurden.) Das Gebiet ist nahezu baumlos. Das entspricht so gar nicht unseren Sehgewohnheiten, dass es zugleich fremdartig und fasziniert wirkt.

Bis Tashkurgan fährt man häufig an Siedlungen vorbei. Hier leben tadschickische Bauern.2 Nur die Siedlung Davdar dürfte ganzjährig bewohnt sein. (Südlich von Davdar tut sich übrigens eine mächtige Öffnung nach Westen zum Pamir hin auf, das Mintaka-Tal. Früher ein wichtiger Zweig der Seidenstrasse, gelangte man doch von Tashkurgan aus durch dieses Tal über zwei knapp 5000 m hohe Pässe ins Hunzatal und weiter nach Kaschmir. Noch heute sind der Kilik- und der Mintakapass nur zu Fuss oder mit Packtieren passierbar. Der Khundjerab hat die alten Übergänge bedeutungslos gemacht.)

Von meinem Rastplatz aus sah ich die erwähnten weiten Felder. Die umschlossenen Siedlungen liegen alle abseits der Strasse; man fährt nicht durch sie hindurch und bekommt so keine wirkliche Vorstellung von den Wohnverhältnissen dort. Einmal kam mir eine Gruppe von ungefähr zwei Dutzend Männern, von einer Siedlung herkommend, auf der Strasse entgegen. Sie waren dunkel gekleidet und trugen Werkzeuge, wie man sie zur Bearbeitung des Bodens braucht, Schaufeln, Pickel und dergleichen. Sie waren vermutlich unterwegs zu einer Art Gemeinwerch.3 Einmal kreuzte mich ein Mann mit geschulterter Schaufel auf einem Velo. Und einige Male kamen Kinder zur Strasse gerannt, die Buben in ebenso dunklen Hosen und Jacken wie die Männer, die Mädchen in farbigen Röcken mit auffallenden Rottönen. Ähnlich wie ihre Mütter, die ich hie und da aus grösserer Entfernung herüberschauen sah. Die Kinder blieben zurückhaltend; nie riefen sie nach Bakschisch. Auch Reitern begegnete ich ab und zu, nie jedoch einem landwirtschaftlichen Motorfahrzeug.

Viehweide zwischen Pirali und Tashkurgan.
Viehweide zwischen Pirali und Tashkurgan.
Ebenen entlang des Pamir.
Ebenen entlang des Pamir.

Die verbleibenden 20 km bis Tashkurgan wären schnell abgespult gewesen. Die Sonne hatte auch auf dieser Höhe erstaunliche Kraft, und der Wind wehte nun in meiner Richtung. Aber ich musste einen Teil der Strecke zweimal zurücklegen. Ich merkte plötzlich, dass der Pullover fehlte. Ich hatte ihn bei der Rast ausgezogen und unter die Gummispinne geklemmt. Es gab kein langes Überlegen, ich musste zurückfahren und ihn finden. Bevor ich das tat, näherte sich ein Lastwagen mit einer Gruppe Männer auf der Ladefläche. Mein Versuch, mich mit ihnen mittels Zeichen zu verständigen, gelang. Sie schienen meine Gestik zu verstehen und zeigten dorthin, wo sie herkamen. Tatsächlich brauchte ich nur wenige Kilometer zurückzufahren, bis ich das unverzichtbare Kleidungsstück am Strassenrand liegen sah.

Wegen der Zusatzschleife erreichte ich Tashkurgan4 erst gegen 13 Uhr (zu Hause war Pfingstmontag). Der kurze Aufenthalt hier bedeutete eine Zäsur zum bisherigen Reiseverlauf. Von hier aus konnte ich erstmals seit dem Start in Rawalpindi mit meiner Familie telefonieren. Darauf hatte ich gehofft, denn von den Dörfern des Hunzatals aus war das nicht gelungen. Dort entsprach die Telefoninfrastruktur noch dem Stand von 1947, wie sie von den Engländern zurückgelassen worden war.5 In Tashkurgan ergaben sich ausserdem Gelegenheiten, sich mit anderen Reisenden, insbesondere mit Radtourenfahrern auszutauschen. Ausserdem freute ich mich auf ein richtiges Bett und warmes Essen.

Die Zitadelle von Tashkurgan.
Die Zitadelle von Tashkurgan.
Quelle: Major Henri De Bouillane de Lacoste, 1905

Es war einiges los am Zoll, allerdings standen da nur zwei Velos, meines und das Tandem zweier Engländer. Sie waren für die chinesischen Beamten6 anscheinend das Tagesereignis. Während wir auf das Immigrationsprozedere warteten, kamen immer wieder andere Uniformierte her, um das Tandem zu begutachten und laut darüber zu palavern. Die Engländer hatten damit die ganze Strecke ab Islamabad zurückgelegt. Ihr Reiseziel war Peking. Ob und wie sie die Taklamakan-Wüste umfahren würden, wussten sei noch nicht.

Bis wir schliesslich im Immigrationsbüro die Formulare ausgefüllt hatten, verging viel Zeit, aber Probleme gab’s nicht. Weil im Reisebuch das Ice Mountain Hotel seiner Gastfreundlichkeit und des illustren Gästebuches wegen empfohlen wurde, quartierte ich mich da ein. Ich bekam ein Bett in einem Viererzimmer, wo sich schon eine Schweizerin und ein Schweizer eingerichtet hatten. Der Erfahrungsaustausch war für mich und für sie wertvoll, kamen sie doch mit dem Bus aus Kashgar und wollten weiter über den Khunjerab nach Gilgit.

Zuallererst wollte ich telefonieren gehen. Im kaum 200 m entfernten Postbüro gab’s auch Telefonkabinen. Ich überreichte einem Beamten die Nummer und bekam innert weniger Minuten eine Verbindung nach Merenschwand in eine der Kabinen durchgestellt. Am anderen Ende der Leitung hörte ich Manuels, unseres Sohnes, Stimme. Nur er war zu Hause; Meine Frau verbrachte mit dem Jüngsten das Pfingstwochenende im Wallis, und auch unsere Tochter war nicht zu Hause. Dass die Verbindung klappte, war für mich wie ein Geschenk. Ich konnte über den guten Verlauf der Reise erzählen, und auch von Manuel erfuhr ich nichts, was zu Sorge Anlass gab. Das Wichtigste war der Kontakt. Nach dem Gespräch fühlte ich mich erleichtert. Erst jetzt war ich wirklich in Tashkurgan angekommen.

Die Zitadelle, 100 Jahre später.
Die Zitadelle, 100 Jahre später.
Quelle: John Hill, Juni 2011

Mit dem Schweizer Paar und weiteren Individualreisenden, unter ihnen ein USA-Koreaner auf Weltreise, nahm ich am frühen Abend in einem Restaurant das Nachtessen ein. Nicht da waren Petra und Achim. Wie ich später erfuhr, waren auch sie eingetroffen, hatten aber ein anderes Hotel gewählt. Ich sollte ihnen erst in Kashgar wieder begegnen.

Im Restaurant gab’s eine reiche Auswahl an Nudel-Suppen, Teigtaschen und Fleischgerichten. An einem Tisch zu sitzen und mit gutem Essen verwöhnt zu werden, genoss ich nach Tagen mit schmaler Kost besonders. Ziemlich gewöhnungsbedürftig war die schlechte Beleuchtung. Man hätte meinen können, es finde im Saal eine geheime Versammlung statt.

Im Vergleich zu Pakistan war hier alles ein wenig teurer. Am meisten bezahlte ich an diesem Tag für die Telefonverbindung in die Schweiz. Sie kostete rund zehn Franken, während ich fürs Übernachten drei und fürs Essen etwa sechs Franken bezahlte. Achtgeben musste man, dass man nicht übers Ohr gehauen wurde, wenn man auf der Strasse oder in einem Kiosk etwas kaufte. Gewiefte Händler, das stellte man rasch fest, erhöhten gegenüber naiven Touristen den Preis oft gleich um das Mehrfache. Als ich mir zum Beispiel an einem Kiosk ein Softgetränk besorgte, bezahlte ich dafür zehn Yuan. Bald wurde mir klar, dass ich für diesen Betrag drei Büchsen plus Retourgeld hätte bekommen müssen.

Ich war erst acht Tage unterwegs und merkte gleichwohl, wie wertvoll der kurze telefonische Kontakt mit dem Sohn gewesen war. Das führte ich auch auf die anstrengenden letzten Tage zurück. Besonders auf dem Streckenteil vor Tashkurgan hatte ich wechselnde Gemütslagen erlebt. Während des anfänglichen Nieselregens hatte ich die Strecke mehr oder weniger stoisch abgespult und von der Landschaft wenig aufgenommen. Auf abgetrockneter Strasse und bei wärmender Sonne bekam ich wieder Spass am Fahren. Und nachdem ich gegessen und wenig später den Pullover wiedergefunden hatte, begannen mich die Hochebene und das majestätische Pamirgebirge mehr und mehr zu faszinieren. Ich erlebte im Verlaufe eines Tages ein Wechselbad der Gefühle. So schrieb ich tags darauf auch die folgenden Sätze ins Tagebuch: In den USA hätte ich ohne Weiteres zusätzliche Wochen anhängen können. Bei dieser Art von Reise, wo ich jeden Kilometer mittels Eigenenergie hinter mich bringe und wo es nur wenige Plätze gibt, die mir als Aufenthalts- oder Ruheort angenehm erscheinen […]*, auf einer Reise also, bei der die Strapazen dominieren, ist es eben anders. *

Bei den Gesprächen mit den Langzeittouristen beschäftigte mich auch die Frage, was ich mich von ihnen hauptsächlich unterschied. Einige von ihnen waren schon über ein Jahr unterwegs und hatten, so schien es wenigstens, kein Bedürfnis, bald nach Hause zurückzukehren. Das hing auch damit zusammen, dass die meisten zu zweit oder in kleinen Gruppen reisten. Und fast alle waren höchstens halb so alt wie ich. Man ist in diesem Alter in fast jeder Beziehung unabhängiger. Das ist gut so.

Ich schätzte Begegnungen wie jene in Tashkurgan; wir tauschten Informationen aus, vor allem erzählten wir auch Persönliches. Das war bereichernd. Und es regte auch zur Selbstreflexion an.

Am danach war ich unschlüssig, ob ich schon weiterfahren oder noch einen Tag hier verbringen wollte. Das ging auch den verschiedenen Gruppen so und erklärte sich hauptsächlich mit dem unbeständigen Wetter. Am Vorabend hatte sich jedenfalls noch keine Gruppe entschlossen gezeigt, am Morgen loszufahren. Es stand wiederum eine Passfahrt auf über 4000 m ü. M. bevor. (Nur das Schweizer Paar war in Richtung Pakistan unterwegs, das Ziel aller anderen war Kashgar.) Nach dem Pass wartete mit dem Karakol-See7 zwar eine der besonderen Naturschönheiten Westchinas, aber der See befinden sich auf 3600 m ü. M., was bei den herrschenden Wetterbedingungen Schneefall bedeuten konnte. Im Reisebuch war denn auch zu lesen: The lake is at 3700m [!] and nights are below freezing even in summer; one camper awoke to find snow on the ground at lakeside in the middle of August.

Für die verbleibenden knapp 300 km bis Kashgar hätte ich mich einer Gruppe anschliessen können. Dafür, dass ich das nicht in Betracht zog, gab es eigentlich keinen besonderen Grund. Wahrscheinlich wollte ich einfach mein Tempo fahren. Und ich hatte noch gar nicht entschieden, ob ich gleich wieder losfahren wollte. Als es im Verlaufe des Morgens zu regnen aufhörte, kam Bewegung in die Gruppen, und schon bald startete ein Team nach dem anderen. Sie fuhren ausnahmslos getrennt. Ich war jetzt knapp 20 Stunden hier, einen Tag weniger lang als die, die jetzt losgefahren waren. Ich fühlte mich aber gut erholt. Vor der Weiterfahrt wollte ich das Velo putzen, die Kette schmieren, die Bremsen und die Gepäckträger-Schrauben kontrollieren. Ausserdem hatte ich mir vorgenommen, einen Brief nach Hause zu schreiben. Am frühen Nachmittag war ich soweit. Von den Tourenfahrern, die im Ice Mountain Hotel, genächtigt hatten, waren nur noch die zwei Tandem-Fahrer da. Ich wurde jetzt auch kribbelig. Nachdem ich mich von den Engländern verabschiedet hatte, fuhr ich los. Ohne festes Tagesziel. Auf den ersten 30, 40 Kilometern kam ich auf der Ebene wie in den Steigungen in einen guten Rhythmus.

Das einzig Aufregende während der ersten Stunden war die Begegnung mit einem Hütehund. Zwei Tage nach dem Ereignis in Pirali kam ich nun selber in Verlegenheit. Auf pakistanischer Seite hatte ich einen kurzen Kontakt gehabt mit einem Radfahrer, der in die Gegenrichtung fuhr. Am seinem Velorahmen hatte er eine Rute befestigt. Mit der würde er angreifende Hunde abwehren. Eine solche oder ähnliche Massnahme hatte ich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Erwägung gezogen. Hier hatte ich nun nach einem Aufstieg ein höher gelegenes Plateau erreicht, als ich aus einiger Entfernung Gebell vernahm und sofort sah, wie sich mir ein grosser Hund in hohem Tempo näherte. Mir blieb ein wenig Zeit zum Überlegen, auch wenn die Entfernung zum Tier schnell kleiner wurde. Er gehörte zu einer Schafherde, die er gegen mich verteidigte. Ich stellte das Velo als Schutzschild vor mich hin. Um die Velopumpe hervorzuholen und allenfalls als Waffe zu benutzen, fehlte die Zeit. Als der Hund sich bis auf Steinwurfweite genähert hatte, nahm er Tempo weg, bellte aber umso lauter. Schliesslich blieb er in einer Entfernung von etwa 20 Metern stehen. Mit gefletschten Zähnen und Gebell. Ich hatte den Eindruck, dass er vor dem Angriff auf meine Reaktion wartete. Aufs Velo zu steigen und wegzufahren war zu gefährlich. Er hätte mich bestimmt augenblicklich attackiert. Instinktiv begann ich mit langgedehnten Lauten wie jaaa, jaaa, .., und Ähnlichem zu ihm zu sprechen. So sanft, so beruhigend, so defensiv wie möglich. Etwa so, wie man es einem weinenden Kleinkind gegenüber zu tun pflegt. – Es half! Der Hütehund schien sich zu entspannen. Er stand einfach nur noch mir gegenüber. Ohne Gebell, ohne Zähnefletschen. Vielleicht eine Minute, zwei Minuten lang setzte ich das Bemühen ihn einzulullen fort. Dann drehte ich das Velo in Zeitlupentempo wieder in Fahrtrichtung und stieg auf. «Nur keine schnelle Bewegung jetzt», war mein Hauptgedanke. Ich durfte dem Hund keinen Grund liefern, mich zu verfolgen. Dann würde ich zweifellos gebissen. Genauso wie Achim in Pirali gebissen worden war. Während einiger Zeit fuhr ich kaum Schritttempo, machte sozusagen Stillstand-Versuche. Der Hund schaute in meine Richtung, blieb aber stehen. Die Gefahr war vorüber. Ich konnte wieder in die Pedale treten.

Als ich mich dem Aufstieg zum Pass näherte, begann sich das Wetter zu verschlechtern. Ich fürchtete, den Pass im Regen oder im Schneefall überqueren zu müssen. Am Nachmittag noch loszufahren, war nicht besonders klug gewesen, aber umzukehren kam nicht infrage. Von den vor mir Gestarteten hatten vermutlich einige den Pass schon überquert oder befanden sich kurz vor der Passhöhe. Während meiner Überlegungen näherte ich mich einem am Strassenrand stehenden Lkw. «Vielleicht nimmt der mich mit», schoss es mir spontan durch den Kopf. Ich stoppte auf der Höhe der Fahrertür. In der Kabine sassen drei Männer. Ich fragte trotzdem – eher mittels Gesten als verbal. Sich in dieser Situation zu verständigen war einfach. Der Chauffeur bedeutete mir, er nehme mich für 20 Yuan bis zum Karakol-See mit. Ich war mehr als erfreut, fürchtete aber, auf der offenen Ladefläche mitfahren zu müssen. Und dafür hätte ich mich wärmer anziehen müssen. Als Velo und Gepäck aufgeladen waren, öffnete einer der Beifahrer die Kabinentür. Zu viert war es eng, aber einigermassen warm. Das ständige Rumpeln und die Zugluft waren wenig angenehm, aber ich war froh über den Kabinenplatz. Inzwischen hatte Regen eingesetzt. Im Trockenen über den Pass und eine Strecke bergab mitzufahren, kam mir so überaus angenehm vor. Noch weit von der Passhöhe entfernt passierten wir die Zweier-Gruppe der Engländer (die am Vormittag als Erste gestartet waren) später das Dreier-Team, bei dem eine Österreicherin mitfuhr. Erst kurz vor dem See überholten wir die zuletzt Gestarteten, eine Engländerin und einen Engländer. Sie hatten nicht nur alle überholt, sondern waren ihnen weit voraus.

Karakol-See. (Beim Schneegipfel handelt es sich um den Muztagata.)
Karakol-See. (Beim Schneegipfel handelt es sich um den Muztagata.)
Quelle: Yoshi Canopus

Auf der Höhe des Karakol-Sees verliess ich den Lastwagen. Vor wenigen Stunden erst geputzt, waren Velo und Gepäck nun schmutziger als vor der Reinigung. An allem klebte der Ziegelstaub der Ladefläche. Am Hinterrad war ausserdem eine Speiche gebrochen. Der erste Defekt seit dem Start in Gilgit. In der Nähe des Sees befanden sich ein Hotel und einige Jurten. Um nicht am anderen Morgen Zeit zu verlieren, wollte ich zuallererst die kaputte Speiche ersetzen, und zwar unmittelbar hier neben der Strasse. Die Taschen hatte ich ja noch nicht aufgepackt. Bei einbrechender Dämmerung baute ich das Rad aus und nahm den Reifen von der Felge. Ich hatte Glück, die Speiche war nicht antriebsseitig gebrochen, so die Kassette nicht entfernt werden musste. Während ich arbeitete, näherte sich mir vom Hotel her ein Mann. Was für eine Überraschung! Es war der USA-Koreaner vor Vorabend. Er war im Bus hiergefahren war und wollte im Hotel übernachten. Er sah mir zu und informierte mich unter anderem darüber, dass man für 40 Yuan im Hotel oder in einer der Jurten ein Bett haben könne. Ich war noch unentschlossen. Das Einbauen der Speiche klappte, obwohl ich das zum ersten Mal machte. Als das Rad aufgepumpt, eingebaut und der Gepäckträger beladen war, verabschiedete ich mich vom freundlichen Herrn. Ich wollte noch ein Stück dem See entlangfahren und mir einen geeigneten Platz zum Campieren suchen.

Warum ich die wenig bequeme Variante wählte, lässt sich dem Tagebuch nicht entnehmen. Vermutlich wäre es mir peinlich gewesen, den nach mir eintreffenden Bikern zu erklären, warum ich vor ihnen am See war. Bei Rad-Globetrottern war es bestimmt verpönt, sich von einem Lastwagen über einen Pass mitnehmen zu lassen. Für mich war das auch das erste Mal gewesen. Wie auch immer, ich fuhr jedenfalls noch ein Stück weiter und fand bald eine windgeschützte Mulde, wo ich das Zelt aufstellen konnte. Es hatte kurz nach der Passüberquerung zu regnen aufgehört, aber von der vielgerühmten Landschaft war in der Dämmerung nicht viel mehr zu sehen als ein Grau-in-Grau. Nur der vergletscherte Berg im Hintergrund hob sich farblich ab.

Bilder wie das obige und das folgende boten sich mir weder am Abend noch am folgenden Morgen. Tatsächlich ist der See aus verschiedenen Gründen ein besonderer touristischer Anziehungspunkt. Da ist einmal die einzigartige Gebirgsszenerie, die den See umrahmt und sich gleichzeitig im Wasser spiegelt, und da sind zum andern die Farben des Wassers, die sich regelmässig von dunklem Grün bis zum hellen Blau verändern. Zu den schneebedeckten Bergen ringsum gehören auch die drei Siebentausender Muztagata (7509 m), Kongur Shan (7649 m) und Kongur Jiubie (7530 m).

Der Kongur Shan ist mit 7649 m oder 7719 m (es gibt unterschiedliche Angaben) der höchste Gipfel des Pamir. Die Erstbesteigung gelang 1981 einer englischen Expedition. Einer der Gründe, warum der Berg bis heute erst fünfmal bestiegen wurde, sind die oft schlechten Wetterbedingungen.
Der Kongur Shan ist mit 7649 m oder 7719 m (es gibt unterschiedliche Angaben) der höchste Gipfel des Pamir. Die Erstbesteigung gelang 1981 einer englischen Expedition. Einer der Gründe, warum der Berg bis heute erst fünfmal bestiegen wurde, sind die oft schlechten Wetterbedingungen.
Quelle: A. Lebedev
Bevor der Schneefall begann, stellte ich hier das Zelt auf.
Bevor der Schneefall begann, stellte ich hier das Zelt auf.

In unmittelbarer Nähe weideten Yaks. Sie nahmen keine Notiz von mir, so dass ich es für unbedenklich hielt, zwischen ihnen zu campieren. Und ich sah jetzt auch, dass die gräuliche Bodenbedeckung eine Grasnarbe war. Anfänglich hatte ich mich gewundert, was die Tiere eigentlich frassen. Ich musste mich beeilen; es sah erneut nach Niederschlag aus. Bevor es soweit war, wollte ich alles im Trockenen haben. Mein Ein-Mann-Zelt hatte einen Vorraum, wo ich die Taschen platzierte. Das Zelt hatte ich so gestellt, dass ich mit dem Kopf leicht erhöht liegen würde. Matte und Schlafsack waren nun ausgelegt, und ich hatte mich umgezogen. Nun wollte ich versuchen, im Vorzelt zu kochen. Damit ein Benzin-Vergaser richtig funktioniert, muss die Zuleitung vorgeheizt werden. Das nachfliessende Benzin soll in gasförmigem Zustand zum Brenner gelangen. Zuerst wird mit der Pumpe im Brennstoffbehälter Druck aufgebaut, sodann der Brenner-Regler einen Sekundenbruchteil lang leicht geöffnet. Dann wird der ausgetretene Brennstoff entzündet und so die Zuleitung aufgeheizt. Schliesslich tritt der Brennstoff gasförmig aus, die Flamme brennt blau. Ich hatte jedoch etwas zu viel Benzin austreten lassen, so dass es beim Entzünden einer Stichflamme gab. Glücklicherweise berührte sie das Zeltdach nicht. An sich war ich mit der Handhabung des Kochers seit Jahren vertraut. Allerdings hatte ich ihn noch nie unter dem Vordach eines Minizeltes eingesetzt, was an sich ein No-Go war! Zu meiner Erleichterung hatte nichts Feuer gefangen. Das vertraute Zischen der Flamme zeigte, dass sie nun rauchfrei brannte.

Ich kochte mir eine warme Mahlzeit und ass dazu die zweitletzte Portion Trockenfleisch. Da ich am kommenden Tag Kashgar zu erreichen hoffte, brauchte ich mir wegen des Essensvorrats keine Sorgen zu machen. Auf der Rückreise würde ich vermutlich – wenn überhaupt – nur noch selten selber kochen. Die Strecke vom Khunjerab bis Gilgit kannte ich ja nun und wusste, wo es Herbergen oder Hotels gab.

Ja, das Kochen und Essen erlebte ich unter den speziellen Bedingungen als Höhepunkt eines ereignisreichen Tages. Dass inzwischen Schneefall eingesetzt hatte, verstärkte erstaunlicherweise das Wohlgefühl noch. Ich trank Bouillon und Tee. Dies alles und die Geräusche der Yaks, die bis nahe ans Zelt heran frassen, dieses aber nicht berührten, sorgten für eine fast heimelige Atmosphäre.

Einzelne Kleidungsstücke konnte ich während der Nacht ausziehen. Nur als ich einmal hinausging, um den Schnee vom Zelt zu schütteln, bekam ich kurz kalte Füsse. Wieder drin dünkte es mich umso behaglicher. Ich schlief in dieser Nacht ein weiteres Mal überaus gut.


  1. Der Karakorum erstreckt sich über den Norden Pakistans, Indiens und den Westen Chinas. Er wird als das höchste Gebirge der Welt bezeichnet, liegen doch mehr als die Hälfte der Gebirgsfläche oberhalb von 5000 Metern. Es gibt hier vier Achttausender und 63 Siebentausender. Der Pamir ist ein Hochgebirge Zentralasiens. Er verbindet den Karakorum mit weiteren Gebirgszügen Asiens, dem Tianshan, dem Kunlum Shan und dem Hindukusch.
  2. Die Tadschiken Chinas sind eines der 56 offiziellen Völker Chinas. Sie leben im Tadschikischen Autonomen Kreis Tashkurgan im Regierungsbezirk von Kaschgar des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang. (Wikipedia)
  3. So nannte man früher in Schweizer Dörfern unbezahlte, gemeinschaftliche Arbeiten z.B. auf Allmenden und Alpwiesen.
  4. In der Sprache der Uiguren bedeutet tash kurgan steinerne Stadt oder steinerne Festung. Tatsächlich sind noch Ruinen eines Forts vorhanden. Ihr Alter wird auf 600 Jahre geschätzt. Der griechische Universalgelehrte Ptolemäus (100 – 160 u.Z.) erwähnt in einem geografischen Werk Tashkurgan als eine Zwischenstation auf dem Weg nach China.
  5. Der Staat Pakistan entstand im August 1947 aus den muslimischen Teilen von Britisch-Indien.
  6. Obwohl die Kleinstadt Tashkurgan offiziell autonomes tadschickisches Gebiet ist und hier zur Hauptsache Tadschicken, Kirgisen und Uiguren leben, sind die Beamten, soweit ich das beurteilen konnte, auschliesslich Han-Chinesen.
  7. Nicht zu verwechseln mit dem Karakul-See auf der tadschickischen Seite des Pamir. (Das kirgisische Wort bedeutet „Schwarzer See“.)