Rawalpindi

16. May, 1999

Wo ich in Rawalpindi absteigen und wie ich nach Gilgit reisen würde, konnte und wollte ich erst vor Ort klären. Die Strecke nach Gilgit auf dem Velo zurückzulegen, kam wegen der Hitze und dem Verkehrsaufkommen nicht infrage.1 Von zuhause aus hatte ich Transportmöglichkeiten recherchiert. Einen Anbieter hatte ich sogar via Mail angefragt, war aber ohne Antwort geblieben.

Nach der Landung auf dem International Airport Islamabad2 hatte ich meine Sachen in Empfang genommen. Velo und Gepäck, alles war da. Die Reifen hatte ich wieder gepumpt, die Taschen festgezurrt. Ich wollte gerade losfahren, als zwei Männer auf mich zukamen; sie waren die physische Antwort auf die zurückliegende Anfrage. Anscheinend hatte ich in der Mail Fluggesellschaft und Ankunftszeit angegeben. Sie begrüssten mich und forderten mich zum Mitkommen auf. Weil ich nicht unhöflich sein wollte, verliess ich die Halle in ihrer Begleitung. Draussen hatten sie einen Kleinbus stehen. Ich solle Rad und Gepäck einladen; sie würden mich zu einem Hotel bringen. Dort könnten wir dann über den Transport nach Gilgit reden. Die Männer waren sympathisch, aber ich war überrumpelt. Zwar müsste ich mit dem vollbepackten Velo nicht durch den chaotischen Verkehr zu einem Hotel finden. (Ich hatte mir auf dem Stadtplan des Reisehandbuchs zwei, drei Adressen von Unterkünften markiert.) Aber wie konnte ich anschliessend vermeiden, über den Tisch gezogen zu werden? Im von ihnen vorgeschlagenen Hotel, sagten sie, bekomme ich das Zimmer für 700 Rial. Ich schlug vor, dass sie mich zum Hotel meiner Wahl fuhren, zur Hunza Tourist Lodge. Dort gab’s Zimmer für 250 Rial. 500 Rial hatten zu dieser Zeit den Gegenwert von zehn Dollar. Auch 700 Rial hörten sich preisgünstig an, aber ich wusste, dass in Rawalpindi ein Doppelzimmer selbst in einem Hotel mit Klimaanlage weniger kostete. Topend-Hotels verlangten zwischen 25 und 40 Dollar. Da sie den Vorschlag akzeptierten, stieg ich ein. Unterwegs war ich froh, die Strecke nicht mit dem Velo fahren zu müssen. – In der Hunza Tourist Lodge erhielt ich ein geräumiges Zimmer mit genügend Platz auch fürs Rad. Die beiden Männer kamen zu mir aufs Zimmer und präsentierten ihr Angebot: Für 10’000 Rial, umgerechnet 200 Dollar, würden sie mich in die gut 600 km entfernte Kleinstadt Gilgit fahren. Exklusiv. Das war, so stellte ich fest, das 20-fache dessen, was der Transport im Kleinbus eines konzessionierten Unternehmers kostete. Ich lehnte das Angebot mit ebendieser Begründung ab.

Dass die beiden mit mir, dem naiven Touristen, ein Geschäft machen wollten, war klar. Dagegen war nichts einzuwenden. Aber auch abgesehen vom Preis wollte ich gar nicht als Einzelperson chauffiert werden. Die Männer blieben höflich, versuchten aber noch eine Weile, mich von den Vorteilen ihrer Dienstleistung zu überzeugen. Erst als ich mich energisch gegen den Taxidienst entschied, stellten sie ihren Versuch ein. Nun war noch der Preis für den Transport zum Hotel zu verhandeln. Sie forderten für die knapp 10 km lange Fahrt 1’000 Rial. Den Kleinbus hätten sie extra für mich angemietet. Die Forderung schien mir gleichwohl unverschämt. Sie akzeptierten dann mein Angebot von 500 Rial. Schliesslich fuhren sie mich zur nächsten Bank – wo ich Geld wechselte und sie bezahlte – und wieder zurück zum Hotel.

Es mag kleinlich erscheinen, dass ich ihnen für den Transport zum Hotel nur die Hälfte des Verlangten bezahlte. Auch wenn sie höflich blieben, gab es für mich keinen Zweifel, dass sie mir für den Transport nach Gilgit kein faires Angebot gemacht hatten. Statt meine Anfrage aus der Schweiz zu beantworten, setzten sie auf den Überraschungseffekt, mich am Flughafen zu erwarten. Ich wusste, dass ich als allein reisender Europäer sowohl gastfreundlichen Menschen als auch Geschäftemachern begegnen würde. Um vor Letzteren gewappnet zu sein, hatte ich mich so gut wie möglich informiert. Das Geld, das ich während der Reise brauchte, hatte ich in Dollars und Reisechecks dabei. Unterwegs konnte ich mir nur übers Einlösen von Checks Bargeld beschaffen. Wie viel ich ungefähr brauchte, hatte ich anhand der Angaben im Reiseführer grob ausrechnen können. Unterwegs naiv in die Falle zu tappen, konnte ich mir schon meiner Geldreserve wegen nicht leisten.

Die eben geschilderte Situation war ein erster Test gewesen. Irgendwie hatte ich ihn bestanden, aber selbstbewusster machte mich das nicht. Ich war zwar froh, dass mir mein Wissen über ortsübliche Preise geholfen hatte, aber ich hoffte, künftig nicht mehr so ablehnend reagieren zu müssen.

Nachdem ich die turbulenten Anfangsstunden hinter mir hatte, war es Mitte Nachmittag. Ich versuchte erst mal durchzuatmen und mich mit dem Hotel und der Umgebung vertraut zu machen. Zu schaffen machten mir Hitze – etwa 40° C – und Lärm. Im Zimmer sorgte ein Deckenventilator für Luftzug. Wenn er zwischendurch aussetzte, wurde es fast augenblicklich unerträglich. Auf der Strasse, die direkt an der Lodge vorbeiführte, bewegte sich ein nicht enden wollender farbiger Strom aus Motorrädern, Autos, Bussen und Lastwagen. Dazwischen Gepäckträger und Fussgänger. Ein unablässiges Gedröhne. Es wurden auch immer wieder Wasserbüffel vorbeigetrieben. Kleine Herden von bis zu einem Dutzend Tieren. Das alles vom Zimmerfenster aus zu betrachten, wirkte wegen seiner Fremdheit faszinierend.

Wenig später war ich selber im Gewühl unterwegs. Zu Fuss. Mit dem Stadtplan im Reisebuch konnte ich mich gut zurechtfinden. Jedenfalls war es nicht weit bis zum Ort, wo ich einen Platz in einem Bus nach Gilgit reservieren wollte. Im für mich exotischen Treiben war ich nun selber der Exot. Ich sah mich von überall her angeguckt, fühlte mich aber nicht bedrängt. Die Leute zeigten bloss ihre Neugierde. An einer Stelle, wo zahlreiche Suzuki-Kleinbusse abgestellt waren, von denen einige beladen oder entladen wurden, erkundigte ich mich bei einem älteren Mann nach dem Büro eines bestimmten Busunternehmens. Hier schien mir der Terminal diverser Transportfirmen zu sein. Der Mann gab auf Englisch Auskunft. Er selber sah in mir auch sofort einen potenziellen Kunden. Ihm gehöre, erklärte er, das Hotel North Inn in Gilgit. Dort gebe es gute, preiswerte Zimmer. Und wenn ich wolle, könne ich auch im Garten mein Zelt aufschlagen. Schon während er mir seine Visitenkarte überreichte, wurde ich von einem jüngeren Mann angesprochen: Seine Firma könne mich zu besonders vorteilhaften Konditionen nach Gilgit fahren. Die Reise in ihrem Bus sei bequem und bewahre mich vor unliebsamen Überraschungen. Wenn ich die falsche Wahl treffe, beeilte er sich hinzuzufügen, könne ich in Teufels Küche kommen. – Schliesslich reservierte ich mir im Büro von Sargin Travel, einer im «lonely planet» genannten Firma, für die Nachttour vom Dienstag auf Mittwoch einen Platz im Kleinbus. Reisedauer: 14 bis 17 Stunden. Velo und Gepäck würden auf dem Dach mitgeführt. Reisekosten: 330 Rial für den Sitzplatz, 150 fürs Rad.

Vor der Weiterreise wollte ich unbedingt mit meiner Frau und mit der Schweizer Botschaft telefonieren. Das klappte von Rawalpindi aus gut; der freundliche Rezeptionist stellte mir jeweils die Verbindung her. In der Botschaft hinterliess ich die Daten zur Reiseroute und fragte nach allfälligen Gefahren. Auf dem Karakorum Highway seien zurzeit auch andere Schweizer mit dem Velo unterwegs. Was den Khunjerab-Pass angehe, der sei wenige Tage zuvor nach einem Lawinenniedergang geschlossen gewesen, aber inzwischen vermutlich wieder offen. Besonders aufmerksam sein müsse ich wegen der Steinschlaggefahr in den engen Schluchten vor dem Pass. – Margrit konnte ich über einen bis zu diesem Zeitpunkt konfliktarmen Reisebeginn erzählen, und über die Gewissheit, in wenigen Stunden Hitze und Lärm hinter mir zu lassen. Das Gedränge überall machte mir in der Tat erheblich zu schaffen. In Gilgit erwartete ich tiefere Temperaturen und – vor allem – weniger Verkehr und weniger Leute. Ich hatte in den vergangenen zwei Nächten kaum geschlafen. Auf der Strasse war es erst nach Mitternacht ruhiger geworden, und bei über 30 Grad Zimmertemperatur hatte auch häufiges Duschen bloss kurzzeitig Abkühlung gebracht. Gegessen hatte ich im Hotel. Ein junger Mann, der aus der Gegend von Gilgit stammte, brachte mir das Bestellte aufs Zimmer. Von ihm erhielt ich die eine oder andere wertvolle Information. Bemerkenswert war, dass und wie er von seiner Freundin erzählte. Sie wohne im Dorf seiner Eltern; sie beide würden bald heiraten. Die Beziehung zu ihr, erzählte er, pflege er, wie wir Europäer das täten. Später wurde mir bewusst, dass das höchstwahrscheinlich mehr Wunschdenken als Wirklichkeit war. Vermutlich wollte der junge Mann einfach nicht als Bürger eines (im Vergleich zum Weste) rückständigen Landes angesehen werden. In Städten wie Rawalpindi oder Islamabad gab es für junge Leute unterschiedlichen Geschlechts vermutlich Möglichkeiten heimlicher Kontaktnahme. In den Dörfern aber durften (und dürfen bis heute) junge Leute vor der Ehe keinen unüberwachten Kontakt zueinander haben. Später konnte ich in Gilgit Abschiedsrituale von jungen Männern beobachten, die wie ich in den Bus nach Rawalpindi stiegen. Da sah man, wie sich Männer umarmten und liebkosten. Frauen waren bei den Abschiedsszenen keine zugegen.3

Der Bursche in der Lodge tat mir übrigens noch einen besonderen Gefallen; er beschaffte mir das Petrol für den Kocher. Ich gab ihm die SIGG-Flasche mit, und er brachte sie gefüllt zurück.

Die bunten LKWs gehören zum typischen Straßenbild Pakistans.
Die bunten LKWs gehören zum typischen Straßenbild Pakistans.

Auf Pakistans Strassen waren damals viele dieser fahrbaren Kunstwerke unterwegs. Hier eines auf dem Karakorum Highway (Bild: Matthias Burian).


  1. Später traf ich auf einem Schweizer, der die Strecke mit dem Rad zurückgelegt hatte. Er erzählte von furchteinflössendem Lastwagenverkehr und Steine werfenden Kindern.
  2. Bis zur Fertigstellung des Regierungssitzes in Islamabad war Rawalpindi von 1958 bis in die 1960er Jahre provisorischer Sitz der pakistanischen Regierung. Die Industriestadt hat 1.4 Millionen Einwohner. Der Islamabad International Airport (seit 2008 Benazir Bhutto International Airport) befindet sich eigentlich in Rawalpindi; er bedient beide Städte.
  3. Aus dem «Tages-Anzeiger» vom 27. Juli 2018 über das Resultat der Wahlen, die vom ehemaligen Kricket-Star Imre Khan gewonnen wurden: Von seiner 3. Frau heisst es, sie trete öffentlich nur voll verschleiert auf. Khan sage von ihr, er habe ihr Gesicht zum ersten Mal bei der Hochzeit gesehen.