Dritte Etappe
Das Frühstück im Mountain Refuge von Sost – Porridge, Omelette, Tee – ass ich mit Appetit. Weil ich mich deutlich besser fühlte als 24 Stunden zuvor, entschloss mich, keinen Ruhetag einzulegen. Auch das deutsche Paar wollte losfahren. Weil sie annahmen, sie würden langsamer unterwegs sein als ich, fuhren wir getrennt.
Kurz nach neun passierte ich den Zoll, was eine kurze Formalität war, und begab mich auf den Weg zu mir unbekannten Höhen. Ich fühlte mich physisch und mental gut. Auf den flachen ersten Kilometern konnte ich mich gemächlich warmfahren. Der KKH führt ab hier durch eine enger werdende Schlucht, meist nur wenige Meter neben dem Fluss (der ab Sost Khunjerab River heisst). Bald folgten die ersten Steigungen, aber bei nun angenehmer Temperatur und meiner optimistischen Grundstimmung war das kein Problem. Unterwegs begegnete ich zwei Männern, die den platten Hinterreifen ihres Geländemotorrads flickten. Es waren zwei Tessiner, die auf den Pass und wieder zurückwollten. Für sie war die Fahrt ein Abstecher; die Grenze passieren wollten sie nicht. Wie beim Schweizer Ehepaar in Gilgit war auch ihr Reiseziel der Iran.
Nach 35 km erreichten ich den Militärposten in Dih. Hier gibt ein paar wenige Häuser. Zu meiner Überraschung auch Unterkünfte. Offiziere rieten mir, hier zu bleiben. Weil das Gebiet zum Khunjerab Nationalpark gehöre, sei zwischen Sost und dem Pass das Campieren nicht erlaubt. In Dih hätte ich das Zelt aufschlagen dürfen oder ein Zimmer bekommen können. Aber es war Vormittag! Darum wollte ich für den Moment nur kurz ausruhen und mich dann fürs Bleiben oder Fahren entscheiden. «Mal schauen, was die Deutschen vorhaben», war einer meiner Gedanken. Inzwischen schien es mir angezeigt, in der abgelegenen Bergregion gemeinsam zu entscheiden, wieweit wir fahren und wo wir allenfalls (versteckt) zelten wollten.1 Als die zwei gegen 13 Uhr eintrafen, wurde mir bewusst, wie langsam sie fuhren. Gleichwohl wählten sie Koksil/Gogsil als Tagesziel. Dort stand und steht bis heute das letzte bewohnte Gebäude vor dem Pass. Es ist die Unterkunft der Arbeiter, die im geologisch instabilen Gelände die Strasse unterhalten.
Der Khunjerab-Nationalpark wurde im Jahr 1975 auf Anraten des Naturforschers George Schaller von Zulfikar Ali Bhutto gegründet. Die Gesamtfläche umfasst 2270 km², womit er einer der größten Nationalparks des Landes ist. Im Süden grenzt er an den Zentral-Karakorum-Nationalpark, im Norden an das 14.000 km² große Tashkurgan-Reservat in China. – Der Park wurde in erster Linie zum Schutz des seltenen Marco-Polo-Argalis (Riesenwildschaf) gegründet. Darüber hinaus beherbergt er Schneeleoparden, Wölfe, Braunbären, Sibirische Steinböcke und Blauschafe. Entlang des KKH bekommt man auch die Wildschafe nicht zu Gesicht. Dafür müsste man sich drei Tagesmärsche in den Park hineinbegeben. (Quelle: Wikipedia)
Ich setzte mich auch wieder aufs Velo. Der Vorposten da oben konnte für den folgenden Tag der geeignete Startort sein für die Überquerung des Passes. Nach wenigen Kilometern traf ich auf eine Gruppe junger Männer, die neben einem Kleinbus zu Mittag assen. Sie luden mich zum Essen ein und reichten mir zur Begrüssung einen Teller Gemüse. Gekochtes zu essen schien unbedenklich. (Ob ich darum Stunden später stärkeren Durchfall hatte? Jedenfalls nahm ich mir vor, fortan noch vorsichtiger zu sein.) Der kurze Unterbruch war eine angenehme Abwechslung auf der sonst einsamen Fahrt. Die Männer sprachen Englisch, so dass es keine Verständigungsprobleme gab. Sie studierten in Gilgit Geografie/Geologie und befanden sich mit dem Professor auf Exkursion. Wer von ihnen der Lehrer war, war leicht zu erkennen, obwohl der Mann nicht wesentlich älter schien als seine Schüler. Eine Hierarchie zwischen ihm und ihnen konnte ich nicht feststellen. Soweit ich das beurteilen konnte, schienen sie ihm auf Augenhöhe zu begegneten. Wenig überraschend war, dass sich keine Frau in der Gruppe befand.
Obwohl die Strasse steiler wurde, kam ich nach wie vor gut voran. Es war nun nicht mehr so warm, aber das störte beim Fahren nicht. Und ich fuhr mit Rückenwind! Allmählich näherte ich mich der Höhenlinie 4000 m. Ich wunderte mich, dass ich weder über das Normalmass hinaus müde wurde, noch mich irgendwie unpässlich fühlte. (Auch der Magen-Darm-Trakt rumorte da noch nicht.) Gemäss Velocomputer war ich seit 60 km unterwegs, müsste demnach in Kürze die Arbeiter-Unterkunft vor mir sehen. Aber entlang der Strasse kam weiterhin kein Gebäude in Sicht. (Der KKH weist hier nur wenig Kurven auf, so dass sein Verlauf weit voraus einsehbar ist.) Also weiter! Wenig später kamen mir die Tessiner auf dem Motorrad entgegen. Ja, sie seien an einem Gebäude vorbeigekommen. Etwa zehn Kilometern von hier. Diese Information hatte etwa die gleiche Wirkung, wie wenn mir jemand ein zusätzliches Zehn-Kilo-Gepäckstück aufgeladen hätte. Eben noch vermeintlich kraftvoll in die Pedale tretend, fühlte ich mich nun von einem Augenblick zum nächsten schlapp. Vermutlich nahmen die Kräfte eben doch proportional zum Höhengewinn ab.
An sich gab’s entlang der Strasse nicht nur Geröll, sondern auch grasbewachsene ebene Flächen, wo man ein Zelt hätte aufstellen können. Wer hätte das zu dieser Tageszeit noch kontrolliert? Ausser dem Motorrad war ich im Übrigen seit langem keinem Fahrzeug begegnet. Es war die nun doch merkliche Abkühlung, die mich veranlasste weiterzufahren. Hier auf die Deutschen zu warten hätte mit einer Erkältung geendet. Wenn ich nicht fuhr, fröstelte ich. Ich hatte keine Ahnung, was mich in Koksil erwartete. Wahrscheinlich kein Bett, aber vermutlich ein geheiztes Haus.
Etwa eine Dreiviertelstunde später – 17 Uhr war vorbei – sah ich weit vor und über mir das lange erwartete Ziel: die Unterkunft der Strassencrew. Ich mobilisierte die letzten Kräfte und war endlich da.2
Auf der Veranda des L-förmigen Häuschens standen drei oder vier Männer, der jüngste schien kaum älter als 20. Sie grüssten freundlich, amüsierten sich aber, wie mir schien, über meinen desolaten physischen Zustand. Ja, ich könne hier schlafen, bedeuteten sie mir. Was das genau hiess, liessen sie offen. Ein Zelt aufzustellen wäre auf dem unebenen, steinigen Gelände rings ums Haus schwierig gewesen. Vordringlicher als die Konkretisierung der Antwort war, dass ich die Kleider wechselte. Mich fröstelte nicht bloss, ich zitterte schüttelfrostähnlich, denn ich stand in Velohose und Kurzarm-Shirt da. Auf 4200 m ü. M. Die Sonne wurde längst hinter den Bergspitzen abgetaucht. Beruhigend war, im Gepäck einen Fleece-Pulli und die lange Hose zu wissen. Aber vor dem Kleiderwechsel wollte ich mich waschen. Nein, eine Dusche gab’s nicht, aber eine Wasserstelle ein paar Meter hinter dem Haus. Eingefasst von einem Mäuerchen aus übereinander geschichteten Steinen. Dort zog ich die Velokleider aus und wusch mich mit eiskaltem Wasser. Es brauchte Überwindung – und tat doch gut. Kaum waren die wärmenden Kleider übergestreift, liess das Zittern nach. Wieder zurück beim Haus, wartete die nächste Prüfung. Der junge Mann brachte mir eine henkellose, bauchige Tasse mit Tee. Wie sehr ich jetzt ein warmes Getränk schätzte! Die Enttäuschung folgte auf dem Fuss: Der Tee war gesalzen statt gesüsst. Der erste Schluck war ein Schock, gepaart mit Brechreiz. Mit Mühe konnte ich das Schlimmste verhindern. Die Männer standen auf der Veranda, gut einen Meter über mir, und schauten erwartungsvoll zu mir herunter. Veranstalteten sie mit mir ein Initiationsritual? Ich war überzeugt, dass sie genau wussten, wie ein Fremder auf gesalzenen Tee reagiert, und dass ich nicht der Erste war, den sie solcherart in Verlegenheit brachten. Weitere Schlucke runterzuwürgen war eine reine Willensleistung. Aber ich war entschlossen, das Ritual zu überstehen, und so trank ich die Tasse allmählich leer. Kaum war der Test bestanden, trugen zwei Männer sozusagen als Belohnung ein typisch pakistanisches mit Gurten bespanntes Bettgestell auf die Veranda. Das sei mein Schlafplatz. Sich verbal zu verständigen war zwar schwierig, nur der junge Mann sprach ein paar Brocken Englisch, aber ich verstand auch so. Bald wurde klar, warum sie mich draussen übernachten liessen. Das Hausinnere war fast vollgestellt mit Werkzeugen und dem Kram der Männer. Und vor allem kochten sie da auch. Auf offenem Feuer – ohne Rauchabzug. Drin fiel mir das Atmen schwer. Erstaunlich, wie sie sich da drin, ohne ständig zu husten, aufhalten und sogar schlafen konnten.
Ob ich am Abend noch etwas ass beziehungsweise zu essen angeboten bekam, daran erinnere ich mich nicht. Vermutlich war ich zu erschöpft, um zu essen. Sicher nahm ich aber ein Medikament gegen den Durchfall. (Der wurde zum Glück nie so arg, dass er mich entkräftete. Geschwächt hatte mich an diesem Tag vielmehr der Aufstieg auf den oftmals endlos langen Geraden und die Tatsache, dass Koksil weiter entfernt war als vermutet.) Draussen legte ich den Schlafsack aufs Bettgestell und schlüpfte hinein. Der junge Bursche brachte sogleich eine Decke, breitete sie über mir aus und zog sie mir bis zum Kinn hoch. Wie ein Krankenpfleger. Mich wie ein Patient, also geborgen zu fühlen, empfand ich als durchaus angenehm. Dabei war ich nur erschöpft. Ich schlief auch in dieser Nacht gut, auch wenn das Quecksilber bis gegen den Gefrierpunkt sank. Soweit ich mich erinnere, musste ich die ganze Nacht nicht ein einziges Mal aus dem Schlafsack kriechen.
Kurz nach sechs stand ich auf. Wieder gut erholt, wie mir schien. Die Kälte störte mich jedenfalls kaum, aber der Hunger war gross. Ich war der einzige Gast geblieben; die deutschen Radler hatten es anscheinend nicht bis hierher geschafft.
Noch vor mir war der junge Mann aufgestanden. Während die Arbeiter noch schliefen, hatte er Feuer gemacht, Tee gekocht und Teig fürs Fladenbrot zubereitet. Er war der Koch der Crew. Er bot mir Tee an – diesmal ohne Salz! –, während er in der Pfanne Fladenbrote backte und diese auf ein Tuch schichtete. Auch einer der Arbeiter kam zum Ofen und assistierte ihm beim Backen. Beide munterten mich auf zu essen. Ofenfrisch mundeten die Fladen besonders gut. Nach vier Tassen Tee und mehreren Broten war ich satt. Der Koch war sichtlich erfreut über meinen Appetit.
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Warum auch in der Nähe der Strasse das Zelten verboten sein sollte, leuchtete mir nicht ein. Weder würde ich Abfälle zurücklassen, noch schien von Wildtieren Gefahr zu drohen (was möglicherweise eine naive Annahme war). Die Berge und Gletscher in der Region des Khunjerab sind übrigens zumindest auf pakistanischer Seite noch kaum erforscht. Einzelne Gipfel tragen noch nicht mal Namen (Stand: 2018). ↩︎
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Die Koordinaten von Koksil/Gogsil: N 36° 48.844 E 75° 19.799. (Google Earth zeigt das Gebäude am 16.08.2018 in der gleichen Form wie damals.) ↩︎