Khunjerab-Pass

23. Mai 1999

Bis nach Koksil waren mir keine grösseren Schäden am Highway aufgefallen. Einzig auf einem schmalen wenige hundert Meter langen Strassenabschnitt wurde mir bewusst, wie schnell man hier – ob auf einem Fahrrad oder in einem Motorfahrzeug – in eine heikle Situation geraten konnte. Der Schotter-Abschnitt befand sich zwischen dem Fluss und einem äusserst steilen, weit hinauf reichendes Geröllfeld linkerhand. Der Geröllhang endete direkt am Strassenrand. Wenn davon etwas ins Rutschen kam, würde, wer die Gefahrenzone nicht rechtzeitig verlassen konnte, in den Fluss geschoben werden. Dass hier ebenso wie in den engen Schluchten davor und danach schon ein harmloses seismische Hüsteln Geröll und lose Felsbrocken in Bewegung setzt, das zu erkennen, brauchte es wenig Fantasie. (Der Karakorum gilt in der Tat als seismisch äusserst aktiv.) Tatsächlich hatten die Deutschen von einem zwei, drei Tage zurückliegenden Zwischenfall berichtet. Ein Radtourenfahrer sei von einem herabstürzenden Stein verletzt worden. Seine Reise endete auf dem letzten Teilstück vor dem Khundjerab.

Selber hatte ich bis hierher keine bedrohliche Situation erlebt und auch keine Steine fallen gehört. Der mächtige Komatsu-Trax befand sich denn auch nicht irgendwo an oder auf der Strasse, sondern in Koksil hinter der Arbeiter-Unterkunft. (Auf der Rückfahrt sollte ich ihn dann im Einsatz sehen.)

Ich hatte von Dih aus noch 18 km und eine Höhendifferenz von 600 m bis zum Pass vor mir. Nachdem ich mich von den gastfreundlichen Männern verabschiedet hatte – Bezahlung nahmen sie weder fürs Essen noch fürs Übernachten an – fuhr ich zwischen sieben und halb acht los. Noch war die Sonne nicht über dem Berg. Es herrschte trockene Kälte. Die verbleibende Höhe lässt sich ab hier nicht mehr auf ansteigenden Geraden gewinnen. Dafür reicht die Distanz bis zur Passhöhe nicht. Vielmehr schraubt man sich über enge Serpentinen hoch.1 Ich war gut erholt und auch guter Dinge, aber auch gespannt, wie ich den Schlussanstieg meistern würde. Nach jeder Kurve kam der Wind von der anderen Seite – mal von vorn, mal von hinten. Bei Gegenwind wusste ich stets: Nach der Kurve bekomme ich wieder Schub. Wenn ich ungefähr doppeltes Marschtempo fuhr, geriet ich nicht in Atemnot. Aber wenn ich probierte, die Tretfrequenz zu erhöhen, kam ich bereits nach wenigen Pedalumdrehungen ins Keuchen. (Ich hatte keine Eile; ich machte den Versuch einzig, um die Physis zu testen.) Es war nicht zu bestreiten: Meine Leistungsfähigkeit hatte sich erheblich verringert. Fahren konnte ich ansonsten beschwerdefrei. Seit der Steilpassage zwischen Gulmit und Pasu hatte ich das Rad nie mehr geschoben und schien es auch bis ganz oben nicht tun zu müssen. In so kleinen Gängen wie jetzt war ich allerdings seit Gulmit nicht mehr gefahren.

Strassenverlauf zwischen zwei Serpentinen; aufgenommen etwa 10 km vor der Passhöhe.
Strassenverlauf zwischen zwei Serpentinen; aufgenommen etwa 10 km vor der Passhöhe.

Mit jeder Rechtskurve kam ich dem Zwischenziel näher. Bis zum Vortag hatte ich nur auf der schattigen Talseite und auf dem Gebirgszug hinter mir Schnee gesehen. Auch jetzt, auf etwa 4400 m ü. M. waren die Hänge zu beiden Seiten schneefrei, im Flussbett aber lag noch Lawinenschnee. Die Strasse blieb bis zur Passhöhe aper. Mit einer Ausnahme: Etwa einen Kilometer vor dem Pass querte eine Lawinenmauer die Strasse. Damit bestätigte sich die Information der Schweizer Botschaft, wonach die Passstrasse kürzlich verschüttet worden sei. Der Lawinenschnee türmte sich noch etwa so hoch wie zwei aufeinandergestapelte Lastwagen. Es war jedoch eine Lücke hindurchgefräst worden, so dass Fahrzeuge passieren konnten. Da die schmale Passage nicht exakt dem Strassenverlauf folgte, hatte man auf diesem Stück statt Asphalt eine Mischung aus Schneematsch und Steinen unter den Rädern. Für Lastwagenfahrer mochte das kein Problem sein, aber als Velofahrer musste ich absteigen. Die Passhöhe erreichte ich danach wieder fahrend: am Sonntag, 23. Mai 1999, 09.50 Uhr.

Die Passhöhe des Khunjerab.
Die Passhöhe des Khunjerab.
Diesen Grenz-Torbogen gab’s 1999 noch nicht.
Diesen Grenz-Torbogen gab’s 1999 noch nicht.
Quelle: Martin Jung
So sieht es nach der Schneeschmelze im Sommer aus. Rechts ist das Türmchen zu sehen, das ich damals zum Ausruhen betreten durfte.
So sieht es nach der Schneeschmelze im Sommer aus. Rechts ist das Türmchen zu sehen, das ich damals zum Ausruhen betreten durfte.
Quelle: Sheikh Danish Ejaz
So sah es am Vormittag des 23. Mai 1999 auf dem Pass aus.
So sah es am Vormittag des 23. Mai 1999 auf dem Pass aus.

Ausser einem Markierstein mit der Aufschrift KHUNJRAB und dem Grenzstein sah ich ringsum nur verschneite Landschaft. Die Strasse war trocken, aber am weisse Band auf der Seite sah ich, dass man vor kurzer Zeit noch hatte Schnee räumen müssen. Ein niedriger Zaun, beidseits bis zur Strasse geführt, zeigte den Grenzverlauf an. Ich war im Augenblick der einzige Mensch auf dem Pass. An diesem Morgen war ich auch keinem Fahrzeug begegnet. Für Kontrollen unmittelbar an der Grenze bestand offenbar keine Notwendigkeit. Tatsächlich führen vom KKH weder auf pakistanischer noch auf chinesischer Seite bis weit hinunter ins Tal keine Strassen weg. Es reicht, die Kontrollstation am jeweils ersten ganzjährig bewohnten Ort zu unterhalten.

Ein Gebäude gab es auf der Passhöhe aber doch: ein rundes Steintürmchen auf chinesischem Boden, wenige Meter hinter der Grenzlinie. Ob da jemand war, konnte ich nicht feststellen. Trotzdem schien es nicht angezeigt, einfach talwärts zu fahren. Darum begab ich mich dorthin. Es schien niemand da zu sein; die Türe war verschlossen. Weil die Sonne die Steinstufen zum Eingang bereits erwärmt hatte, setzte ich mich. Nach wenigen Minuten näherte sich von der Strasse her ein uniformierter junger Mann. Er war eben aus einem Auto gestiegen, das in Richtung Sost weiterfuhr. Er trat heran und gab mir die Hand. Als er aufgeschlossen hatte, forderte er mich zum Eintreten auf. Die Treppe hoch kamen wir in ein karg möbliertes Büro. In Erinnerung geblieben sind mir ein Schreibtisch und der Fauteuil, in den ich mich setzen durfte. Verständigen konnten wir uns verbal nicht, aber das war auch nicht nötig. Kontrollieren wollte mich der Uniformierte jedenfalls nicht. Er schien nur tagsüber als Beobachter hier zu sein und musste wohl einfach die Zeit totschlagen. An einen Telefonapparat erinnere ich mich nicht, aber er hatte sicher die Möglichkeit, sich mit dem Militärposten in Pirali oder mit der Grenzpolizei in Tashkurgan zu verständigen. Wer ich war und woher ich kam, versuchte ich dem Mann gleichwohl zu vermitteln. Die Fotos, die ich ihm zeigte, betrachtete er mit grossem Interesse.

Die 130 km bis Tashkurgan wollte ich nicht an einem Stück zurücklegen; darum wählte ich das 30 km entfernte Pirali als Tagesziel. Dass ich mich nicht zu beeilen brauchte und sogar die Radtaschen hätte heraufholen und mich verpflegen können, war klar. Aber ich hatte noch keinen Hunger. So verabschiedete ich mich bald.

Zwei Schotten, die einen Tag später mit den Velos den Pass überquerten, erzählten dann in Kashgar, auf der Passhöhe hätten sie nicht weit von der Strasse fünf Bären gesehen. Fünfzig von ihnen soll es im Park insgesamt geben beziehungsweise damals gegeben haben. Wildtieren zu begegnen hatte ich auf der ganzen Reise nie das Glück. Und natürlich sah ich auch keinen Schneeleoparden, las aber im lonely planet, im Basar in Kashgar würden manchmal Leopardenfelle angeboten. (Fuchs- und Wolfsfelle sah ich einige Tage später dort schon, aber keines von der zentralasiatischen Grosskatze.)

Dafür erinnere ich mich an die Begegnung mit einem Hütehund. Ob es vor oder nach dem Khunjerab war, weiss ich nicht mehr; im Tagebuch machte ich darüber keinen Eintrag. Am gleichen Tag oder etwas früher hatte ich einen Radfahrer mit einer am Rahmen befestigten Rute getroffen. Die habe er dabei, um angreifende Hunde abzuwehren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur hin und wieder kläffende Köter gehört, war jedoch mit keinem in Kontakt gekommen. Mit den Überlegungen des Radlers konfrontiert, überlegte ich, wie ich auf eine Attacke reagieren würde. Einen Stock mitführen wollte ich nicht. Ob ich vielleicht die Velopumpe als Abwehrinstrument benutzen könnte? Die Frage beschäftigte mich nicht weiter; ich schätzte die Gefahr als gering ein. Nicht viel später brachte mich ein heranpreschender Hund dann doch in Verlegenheit. Ich hatte eben eine Hochebene erreicht, als ich aus einer ziemlichen Entfernung Gebell vernahm und auch gleich sah, wie das Tier sich mir in hohem Tempo näherte. Weil weder Gebäude noch Bäume die Sicht verdeckten, hatte ich gute Sicht – und auch etwas Zeit zum Überlegen, auch wenn der Hund die Distanz von anfänglich mehr als 200 m schnell abbaute. Er gehörte zu einer Schafherde und nahm mich wohl als Gefahr für die Sicherheit der Tiere wahr. Ich stellte das Velo wie einen Schutzschild auf. Um die Velopumpe hervorzuholen, fehlte die Zeit. Einen halben Steinwurf entfernt wurde der Hund langsamer, bellte dafür umso lauter. Schliesslich blieb er, kaum 20 m entfernt, stehen. Das Bellen wurde zum Knurren. Ich spürte, dass er auf meine Reaktion wartete, um anzugreifen. Aufs Velo zu steigen und wegzufahren versuchen, hätte genau dies bewirkt. Ohne zu überlegen, begann ich ihn mit sanfter Stimme anzusprechen. Mit langgedehnten Lauten wie jaaa, jaaa, .., und Ähnlichem. Beruhigend. Defensiv. Etwa so, wie man es weinenden Kleinkindern gegenüber zu tun pflegt. Es nützte! Der Hütehund schien sich zu entspannen. Er wurde leiser und verstummte. Ich setzte die Antirhetorik fort. Das mag eine Minute, zwei Minuten gedauert haben. Wie in Zeitlupe drehte ich das Velo wieder in Fahrtrichtung, stieg auf. Nur keine schnelle Bewegung jetzt. Wenn er mich verfolgte, war ich der Verlierer. Drum fuhr ich während einer grösseren Distanz kaum Schritttempo. Der Hund blieb stehen, schaute mir nach. Für ihn wie für mich war die Gefahr gebannt.

Ich spürte das Herzklopfen noch einige Zeit. Mehr war nicht.

In Richtung Pirali konnte ich es vorerst rollen lassen. Nicht allzu schnell, die Strasse war schmal, der Asphalt holprig, und mein Gefährt wog mit mir zusammen immerhin gegen 100 kg. (Tourenräder mit Scheibenbremsen waren zu dieser Zeit noch nicht Standard.) So steil wie erwartet ging’s dann doch nicht bergab. Nur einmal zwang mich ein über die Strasse trottendes Trampeltier, stärker zu bremsen. Nachdem etwa 600 m Höhe abgebaut sind, wird das Gelände bis Pirali weitgehend eben. Dort traf ich um die Mittagszeit ein.


  1. Der Strassenverlauf lässt sich heute auf Google Maps mit Hilfe der Koordinaten in der letzten Fussnote des vorausgehenden Kapitels betrachten. Auf dem letzten Stück vor dem Pass sieht man zwei Strassenverläufe. Der eine ist offensichtlich ein den Pass unterquerender Tunnel. Ob er erst geplant, im Bau oder schon fertiggestellt ist, lässt sich nicht erkennen. Die Zahl der Laster auf der Strasse unmittelbar vor dem Kulminationspunkt belegt, dass die Fahrzeuge zum Zeitpunkt der Aufnahme immer noch über die Passhöhe fahren mussten. ↩︎