Siebte Etappe – 200 km bis Kashgar?
Als ich am Morgen des 26. Mai kurz vor sieben Uhr aus dem Zelt kroch, war der Himmel verhangen, aber es schneite nicht mehr, und gegen den See hinunter war der Boden bereits wieder aper. Ich hatte am Abend vorher meinen Wasservorrat aufgebraucht, so dass ich mit der Pfanne zum See stapfte, um Wasser für den Frühstückskaffee zu holen. Der Boden war aufgeweicht. Ich hatte keine Bedenken, das klare Seewasser zum Kochen zu brauchen. Und diesmal schaffte ich es auch, den Kocher in Betrieb zu setzen, ohne eine Stichflamme zu produzieren.
Um neun Uhr hatte ich das Zelt eingepackt, alles in den Taschen verstaut und war startbereit. Auch an diesem Tag gab es eine Fahrt ins Ungewisse. Die Strecke bis Kashgar sollte 170 km betragen. Schwer abzuschätzen, ob ich das an einem Tag schaffen würde. Immerhin klarte der Himmel auf. Und da die Stadt auf 1300 m ü. M. liegt, liessen sich 2500 m Höhendifferenz als überlange Talfahrt zusammenfantasieren. Sorgen machten mir die Sitzbeschwerden, die mich seit der Fahrt nach Tashkurgan störten. Ich benutzte eine Salbe, aber wirkliche Erleichterung hatte sie bis jetzt nicht gebracht.
Es ging vorerst ein paar Kilometer auf die nächste Zwischenebene hinunter. Dort zwang mich die Stärke des Gegenwinds, in den kleinsten Gang zu schalten und bei der nächsten Steigung eine Zickzacklinie zu fahren. Ich machte gezwungenermassen wenig später den ersten Stopp. Dort warteten am Strassenrand tadschickische Männer. Auf einen Bus? Auf einen Truck? Da sie mich in der beschriebenen Weise hatten heranfahren sehen, nötigten sie mich beinahe, anzuhalten und mich hinzusetzen. Ich tat ihnen und mir den Gefallen. Von weit unten näherten sich zwei Velofahrer. Bald erkannte ich, wer sie waren: die zierliche Frau und der kräftige Bursche, die am Vortag zuletzt losgefahren, aber als Erste den See erreicht hatten. Sie konnten mir vielleicht helfen, die Acht im Hinterrad rauszudrehen. Mein Alu-Speichenschlüssel hatte sich als zu wenig robust erwiesen. Nach der Reparatur hatte ich es nicht geschafft, das Rad zu zentrieren. Der Engländer holte tatsächlich das bekannte runde Tool aus einer Tasche, und nach ein paar Minuten war das Rad wieder einigermassen zentriert (wobei einzelne Speichen jetzt vermutlich unter zu stark gespannt waren).
Ab jetzt fuhren wir zu dritt. Vorerst musste ich mich an die eigenwillige Fahrweise des Mannes gewöhnen; mich ihm anzupassen wäre nicht ratsam gewesen. Die Steigungen hoch fuhr er im kleinsten Gang mit irre schnellen Pedalumdrehungen. Oben musste er auf mich und noch länger auf seine Freundin warten. Das Problem erledigte sich bald von selbst, da es nun eine Zeitlang bergab ging. Und wie! Die Strassenbauer hatten hier eine langgezogene Schlucht hinunter ein Trassee teilweise in die Felsen schneiden müssen. Auf einer kurzen Strecke war eine grosse Höhendifferenz zu überwinden. Das liess sich nur mit einer grossen Zahl sehr enger Kurven erreichen. In Erinnerung geblieben ist mir eine Art Riesenslalom-Kurs. Gleichwohl war das Gefälle beträchtlich. (Im Reisetagebuch wird die Schlucht als «steep and lifeless, forbidden even on a sunny day» charakterisiert.)
Als wir diesen Teil befuhren, hatten wir noch immer Gegenwind, aber die Bremsen wurden trotzdem enorm beansprucht. Auf einem modernen MTB mit Scheibenbremsen würde man heute die Fahrt die Schlucht hinunter geniessen, aber mit den damals üblichen Felgenbremsen war viel Fingerkraft nötig, um mit dem schwer beladenen Rad das Tempo tief zu halten. Kam dazu, dass die an sich asphaltierte Strasse immer wieder in Geröllpassagen überging. Dort hätte man im Schritttempo befahren sollen. Ich fuhr oft eine Spur zu schnell. Das führte zu einem weiteren Speichenbruch, was ich allerdings erst in Kashgar reparierte.
Beim militärischen Checkpoint in Ghez folgte eine Essenspause. Ein Mann betrieb da eine kleine Garküche – hauptsächlich für die Soldaten. Aus viel mehr als aus einem Gasrechaud mit zwei Kochstellen bestand die Einrichtung nicht, aber sei Gemüse-Reis-Gericht schmeckte gut. Mit Erstaunen folgte ich dem auf Chinesisch geführten Gespräch zwischen der Engländerin und einzelnen Gästen der Garküche. Sie hätte mit den Eltern fünf Jahre in China gelebt, klärte sie mich auf.
Nach dem Essen kamen wir zügig voran. Der Wind flaute ab. Die Strasse verläuft hier parallel zum Fluss und weist nur noch wenig Neigung auf. Es lief uns jedenfalls so gut, dass wir beschlossen, bis Kashgar durchzubiken. Es waren noch deutlich mehr als 100 km, aber weil wir beiden Männer uns in der Führung ablösten, konnten wir konstant ein Tempo zwischen 33 und 37 km/h fahren. Die Frau liess nie abreissen, und auf den letzten 25 Kilometern war sie es dann, die meist an der Spitze fuhr. Auch mit ihr als Tempomacherin fuhren wir nicht langsamer. Ihr Partner fuhr eine Zeitlang noch kurze Ablösungen, später konnte er nicht mehr führen. Ich war nicht so kaputt wie er, dafür plagten mich die Sitzbeschwerden.
Natürlich machten wir zwischendurch kurze Trink- und Essenspausen. Für jeweils wenige Minuten setzten wir uns neben der Strasse auf den Boden.
Nach 170 km erreichten wir gegen 17 Uhr die Vororte von Kashgar. Wir glaubten uns fast am Ziel, aber die Stadt wollte und wollte nicht kommen. Und als wir endlich an einer Distanzangabe vorbeikamen, stand da «17 km». Es wurde 19 Uhr, bis wir im Zentrum waren. Der Velo-Computer zeigte 200 Tageskilometer.
Ich checkte im Seman-Hotel ein, während das Paar sich anderswo umsah. Nach einem Tag Aufenthalt wollten sie die Fahrt fortsetzen, um später nach Peking zu fliegen. Wir hatten auf der Strecke zwischen dem Karakol-See und Kashgar eine Vernunftgemeinschaft gebildet. Das war auch mir entgegengekommen, denn allein hätte ich wie die nachfolgenden Gruppen wahrscheinlich in einem der Vorort die Nacht verbracht. Unterwegs hatten wir nicht viel miteinander geredet; der Mann war eher maulfaul und wirkte etwas mürrisch. Er und sie benutzten, so schien es mir wenigstens, den KKH als Trainingsstrecke. Mir blieb als Fazit die Einsicht, dass ich lieber allein fuhr.