Die Walliser Auswanderung ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs.

Vorwort

Heutzutage wandern jedes Jahr 25'000 und mehr Schweizerinnen und Schweizer aus, die meisten, weil neue berufliche Möglichkeiten sie locken, andere aus Abenteuerlust oder weil sie dem Leistungsdruck ade sagen wollen. Aber im vorletzten Jahrhundert war die Schweiz ein eigentliches Auswanderungsland. Der Hauptgrund war soziale Not. Im 18. Jahrhundert wuchs in manchen Regionen der Schweiz die Bevölkerung schneller als die Zahl der Arbeitsplätze. Im Wallis, wo fast die ganze Bevölkerung als bäuerliche Selbstversorger lebte, wurde es zunehmend schwierig, auf den oftmals kargen Böden genügend Nahrung zu produzieren. Der Realteilung wegen waren die Bauergüter klein und zerstückelt. Besonders in grösseren Familien ergaben sich für die Nachkommen kaum mehr ausreichende Existenzgrundlagen. Gewerbliche Betriebe gab es kaum, Fabriken existierten (noch) nicht. Optimistisch klingende Berichte der ersten Argentinien-Auswanderer veranlassten mehr und mehr Leute, Familien ebenso wie Einzelpersonen, ihre Güter zu verkaufen und das Wallis Richtung «Amerika» zu verlassen.

Ich kam mit dem Thema in Berührung, als ich zum Buchprojekt Binntal recherchierte. Eine meiner Auskunftspersonen war der in Binn wohnhafte Klaus Anderegg. Der Ethnologe und ehemalig Radioredaktor hatte in den vergangenen Jahrzehnten intensiv über die Walliser Auswanderung geforscht und tat es weiterhin. Bis zu seiner Pensionierung hatte er zahlreiche Radiobeiträge produziert und publizierte auch weiterhin Forschungsergebnisse. Er ist zweifellos der beste Kenner der Walliser Emigration. Bei seiner Arbeit schöpft er aus einer immensen Fülle an selbst zusammengetragenen Dokumenten, insbesondere aus Briefen von Emigranten, die von den Walliser Verwandten aufbewahrt wurden. Obwohl ein grosser Teil dieser Briefe von Anderegg schon transkribiert waren, lag noch einiges in der ursprünglichen alten Kurrentschrift vor. Viele Historiker*innen der neueren Generation können diese Texte nicht mehr lesen, so dass das Thema von der Forschung übersehen zu werden droht. (Vor Jahrzehnten schon transkribierte meine Mutter für Historiker der Uni Zürich alte Handschriften.)

Da mich für das Thema fasziniert und mit den alten deutschen Schriften vertraut bin, begann ich mich an der Arbeit zu beteiligen. Es blieb nicht beim Transkribieren; ich schrieb kommentierende Inhaltsangaben und verwies wo immer möglich auf Zusammenhänge zwischen Briefkonvoluten hin.

Die primäre Absicht war, das Material dem Sittener Staatsarchiv zu übergeben und so der weiteren Forschung zugänglich zu machen. Klaus Anderegg fasste auch eine Buchveröffentlichung ins Auge. Während die erstgenannte Absicht umgesetzt wurde, verfolgten wir das Buchprojekt nicht weiter, einerseits aus Kostengründen, andererseits, weil es fürs Thema vermutlich bloss einen kleinen Kreis von Interessierten gibt.

Auf einer Argentinienreise im Jahr 2016 besuchten meine Frau und ich auch das um 1860 von Walliser Einwanderern gegründete Dorf San Jerónimo Norte westlich von Santa Fe (vgl. vueltaargentina.blogspot.com). Von dort nahmen wir Kopien einer grösseren Zahl von Dokumenten mit, darunter wiederum Briefe, die im vorletzten Jahrhundert vom Wallis in die argentinische Kolonie geschickt worden waren.

Später kam ich in Kontakt mit René Theler, dem in der Schweiz wohnhaften Enkel einer Walliser Auswandererfamilie. Sein Grossvater Johann Christian Theler von Ausserberg war mit seiner Familie um 1890 nach Argentinien emigriert, vor dem Ersten Weltkrieg wieder ins Wallis zurückgekehrt und um 1920 ein zweites Mal ausgewandert. Wiederum nach Argentinien, allerdings nicht mehr in die Provinz Santa Fe, sondern ins nordöstliche Misiones. Vom ebenso schreibfreudigen wie schreibgewandten Mann ist einiges an Texten erhalten, u.a. ein Schreibkalender, worin er Daten zu seiner Siedlertätigkeit festhielt. Bedeutender noch ist seine handschriftliche Lebensgeschichte. Diese bekam ich von René Theler zur Verfügung gestellt. Sie ist in ihrem Detailreichtum eine überaus wertvolle Quelle. Ich beschloss, von diesem Material ausgehend die Geschichte der Familie Theler zu verfassen. (Einer der Söhne der 15-köpfigen Familie studierte übrigens in der Schweiz und machte in der Folge eine steile Karriere als Versicherungs-Direktor. Sein Sohn René trat in seine Fussstapfen.) Der heute über 80-jährige René Theler gab mir die Einwilligung, die Lebensgeschichte seines Grossvaters online zu stellen.

Neben dieser Lebensgeschichte werden hier weitere Texte publiziert, neben der Einführung in die Walliser Emigrationsgeschichte eine Auswahl besonders aufschlussreicher von mir transkribierter und kommentierter Briefe, besonders aus der Kolonie San Jerónimo Norte. Weitere Texte zum Thema werden folgen.

April 2021, Gerold Koller