Reisen

Als Knabe plagte oft mich die Sehnsucht nach der Ferne. Vielleicht darum, weil unsere Familie Ferien nicht kannte. Die Eltern führten in Giswil ein Landesprodukte-Geschäft und einen kleinen Bauernhof (6 ha, vorwiegend Hanglage). Ohne Angestellte. Das bedeutete für uns (Familie mit drei Kindern) das ganze Jahr über Arbeit. Im Sommer war’s streng: heuen, Vieh besorgen (Vater gab keine Tiere auf die Alp), den Früchte- und Gemüse-Laden führen, abends Getränke ausliefern. (Wir hatten in OW ein Mineralwasser- und Obstsäfte-Depot.) Bauern bestellten sauren Most in Fässchen, andere Obwaldner harassweise Mineralwasser. Und gerade während der Schulferien kauften bei uns regelmässig ausländische Touristen Früchte, Gemüse und Getränke. Die meisten von ihnen waren Holländer. Solche, die jährlich wiederkamen, meinten, wir bräuchten ja nicht in die Ferien zu fahren, so schön, wie es hier sei: mit dem See, dem tollen Grundwald und dem abenteuerlichen Wildbach Laui. Wie sehr sie die Situation verkannten! Tatsächlich konnten wir nicht mal schwimmen lernen. Aber abgesehen vom Wissen, was Kinderarbeit bedeutet, schaue ich bis heute auch mit einer gewissen Genugtuung auf die Zeit zurück. Die Verantwortung, die ich mittrug, stärkte mich damals als Knabe. Die für und neben der Schule erbrachte Leistung beeinflussten mein Selbstwertgefühl nicht unwesentlich. Die Anforderungen waren in besonderer Art identitätsbildend.

Als die Eltern Geschäft und Bauernhof verkauften – meine Schwester und ich kamen ins Ausbildungsalter und würden zuhause als Arbeitskräfte wegfallen – und in den Kanton Luzern, nach Sursee, umzogen, änderte sich fast alles, v.a. lernten wir auch selber Ferien kennen. Als 1964 in Lausanne Expo war – ich befand mich zu dieser Zeit in Luzern in der Lehre zum Schriftsetzer –, kaufte ich mir mit dem ersten eigenen Geld ein Sechsgang-Velo, einen sog. Halbrenner für 260 Franken und fuhr über Brünig und Grimsel ins Wallis, am zweiten Tag an die Expo und von da via Jaunpass heimzu. Am Abend des dritten Tags war ich wieder zu Hause. In der ersten Nacht hatte mir die freundliche Wirtin einer Wirtschaft in Raron einen mit Tischen und Stühlen vollgestellten Nebenraum als Schlafraum angeboten. Die zweite Nacht verbrachte ich neben einer Strasse in der Nähe von Jaun. Luftmatratze und Wolldecke hatte ich dabei. Die Velotour war mehr Krampf als Erholung, aber ich genoss es, frei unterwegs zu sein. Als ich die Lehre abbrach, um in Sursee in die Mittelschule zu wechseln, verdreifachte sich die Anzahl der Ferienwochen. Die meiste Zeit verbrachte ich als Schichtarbeiter in Industriebetrieben wie der Pantex Stahl AG in Büron, um die Zeit der Matura herum bei der Securitas in Basel. Vier Wochen reservierte ich für Ferien, die ich zusammen mit einem Freund auf Ausland-Touren verbrachte. Er mit Moped, ich mit Velo. Destinationen waren u.a. der Mondsee östlich von Salzburg und Amsterdam. Schon damals hielt ich auf den längeren Reisen besondere Erlebnisse sowie Gedanken über Menschen und Orte tagebuchartig fest.
In den Semesterferien während des Germanistikstudiums in Zürich war ich wiederum hauptsächlich am Geldverdienen. (Die vom Kanton Luzern ausgerichteten Stipendien war beschämend gering.) Als Primarlehrer-Stellvertreter für Junglehrer, die wegen der Sommer-RS frühestens Ende Oktober ihre Klasse übernehmen konnten, bekam ich erstmals einen ordentlichen Lohn. Weil auch Seminararbeiten zu schreiben waren, blieben für Ferien nur drei bis vier Wochen. Trotzdem wählten wir, mein jüngerer Bruder, ein Studienkollege und ich, nun weiter entfernte Ziele. Spanien und Portugal etwa, einmal Norwegen, Schweden, Finnland, ebenso die Türkei bis nahe an die syrische Grenze. Unterwegs waren wir nicht mehr mit Velos, sondern mit einem alten Ford, den der Kollege vom Onkel geschenkt bekommen hatte. Es waren Road-Trips von jeweils um die 10'000 Kilometer Länge. Auf der Nordlandreise war auch meine spätere Frau dabei. Allerdings war sie von dieser Art des Unterwegsseins nicht so begeistert. (Wir hockten halt zu viele Stunden auf den unbequemen Sitzen der alten Karre. Und die Strassenbeläge entsprachen selten dem bei uns schon üblichen Standard.)

All diese Reisen sind mir in lebendiger Erinnerung. Ich brauche die unterwegs entstandenen Texte nicht zu lesen, um mich an Einzelheiten zu erinnern. Das liegt zur Hauptsache daran, dass einem Reisen im Unterschied zum Alltag als Geschichten bleiben. Und ohne eigene Geschichten dünkt mich der Mensch arm. Solche ergeben sich besonders dann, wenn man allein oder zu zweit abseits von Touristenpfaden unterwegs ist. Beim Reisen mit dem Velo kommt dazu, dass man jeden Meter des Weges erarbeiten muss. Man sieht sich ständig Neuem ausgesetzt. Und das nimmt man auch wahr. Während man motorisiert eher aufs Ziel hin fokussiert ist resp. auf einen weiter entfernten Horizont, erlebt man auf dem Rad jeden Augenblick des Fahrens. Das erweitert (im symbolischen Sinn) den Horizont. Das ist intensiv und darum schön; man lebt im Moment. Solche Momente, sie mögen ganz unspektakulär gewesen sein, sind einem auch Jahre später noch gegenwärtig.

Natürlich ist man auch als Individualreisender Tourist, aber den Menschen, die man trifft, begegnet man in der Regel auf Augenhöhe. Oft ist man auf ihren Rat, manchmal auf ihre Hilfe angewiesen. Es findet in den meisten Fällen eine Zweiweg-Kommunikation statt. Jedenfalls führen die Begegnungen zu einem für beide Seiten bereichernden Austausch: Wer bist du? Wer bin ich? Ein Hin und Her von kurzen Erzählungen. Konsumierendes Reisen, insbesondere in Gruppen, hat mich nie interessiert. Ich war immer neugierig auf fremde Länder und deren Kultur, aber ich wollte mich dabei nicht im Reiserudel bewegen. Viel lieber näherte ich mich allein oder zu zweit (oft mit aufgeschlagenem Reisehandbuch) einem besonderen Objekt. Und mit Einheimischen hatte ich als Individualreisender naturgemäss Kontakt. Schon weil sich die Leute einem mit Neugierde und ohne Scheu näherten.

Bis ich wieder ‘abenteuerlich’ reiste, dauerte es nach dem Studium nahezu zwei Jahrzehnte. Ich unterrichtete inzwischen Deutsch an einer Zürcher Kantonsschule. Wir waren nun eine Familie mit einer Tochter und zwei Söhnen. Zu viert, später zu fünft verbrachten wir die Ferien in der Schweiz oder im nahen Ausland. Wir hatten immer Velos dabei, so dass wir ausser bei der An- und Heimreise nicht aufs Auto angewiesen waren. Aber längere, Tage dauernde Touren konnten wir aus naheliegenden Gründen nicht machen. Erst 1996, als Manuel, der ältere Sohn, 14 war, unternahm ich mit ihm erstmals eine längere Radtour. Von der Rhonequelle im Oberwallis bis zum Rhonedelta am Mittelmeer. Als wir auf halber Strecke waren, reiste uns Margrit mit dem Nesthäkchen Zeno im Auto nach. (Die Tochter war schon 16; sie verbrachte einen Teil der Ferien mit Gleichaltrigen.) Die Tour entlang der Rhone war quasi das Pendant zur weit zurückliegenden Tour nach Amsterdam – jetzt einfach in Richtung Süden. Sie war jedoch ähnlich erlebnis- und abwechslungsreich wie die Velotour zur Teenagerzeit. Das Bedürfnis nach Langstreckenradfahren war wieder da, aber die nächste Gelegenheit ergab sich erst drei Jahre später, als ich von der Schule ein Semester als Weiterbildungsurlaub zugut hatte. Von den Sportferien bis nach den Sommerferien 1999. Während dieser Zeit wollte ich auch einige Wochen mit dem Velo unterwegs sein. Ich plante eine Reise von Nordpakistan entlang des Karakorum-Highways ins chinesisch-uigurische Kashgar. Die höchste Erhebung unterwegs war der knapp 5000 m ü. M. liegende Khunjerab Pass an der Grenze beider Staaten. Diese Reise musste und wollte ich allein unternehmen. Zum einen fiel sie nicht in die Zeit der Schulferien, zum andern kannte ich niemanden, dem ich die zu erwartenden Strapazen hätte zumuten wollen. Dass meine Frau mit der Auszeit auch von der Familie einverstanden war, bedeutete ein enormes Entgegenkommen. Während meiner Abwesenheit lag fast alles auf ihren Schultern. Immerhin machten wir vor der Asientour gemeinsam eine Camper-Reise durch den Südwesten der USA, wo wir National- und State-Parks (incl. Grand Canyon) besuchten und ich auch Tagesausflüge mit dem Velo machen konnte, etwa im Death Valley oder durch eine Sandwüste in Colorado, einmal auch während einer Mondnacht im südlichsten Arizona entlang der Grenze zu Mexiko. (Obwohl mit den Rangern abgesprochen, war dieser letzte Trip auf einem 80 km langen Rundkurs dann auch im übertragenen Sinn grenzwertig. Dem Grenzzaun entlang kam es zu einer Begegnung mit Mexikanern, die offensichtlich illegal unterwegs waren. Sie überholten mich auf der Schotterpiste mit ihrem Auto in hoher Geschwindigkeit. Die Scheinwerfer ausgeschaltet. In einiger Entfernung stoppten sie, setzten zurück, sprachen mich in einem Kauderwelsch von Spanisch und Englisch an und setzten dann – beruhigend für mich – die Fahrt fort. Anscheinend sahen sie in mir – harmlos wie ich war – keinen lästigen Zeugen. – Auf einigen dieser Touren konnte ich auch testen, wie ich auf längeren Strecken mit hohen Temperaturen zurechtkam. Und es waren durchaus auch kleine Mutproben.

Auf der Pakistan-China-Reise schrieb ich die Tagesberichte noch in ein Heft, auf den späteren Touren durch den Iran, in den USA von Seattle nach San Diego sowie durch Costa Rica und Nicaragua richteten wir einen Blog ein, über den wir jeweils auch direkten Kontakt zur Familie und zu Freunden halten konnten. Während wir im Iran auf Internet-Cafés angewiesen waren, hatten wir später einen Mini-Laptop dabei, so dass wir fürs Übermitteln der Texte und Bilder bloss noch auf eine Netzverbindung angewiesen waren. Auch auf diesen Reisen mit Manuel und später mit Zeno nahm ich Urlaub von der Schule, und zwar jeweils in der Zeit zwischen Sommer- und Herbstferien, so dass ich eine längere Freiperiode hatte. Urlaube konnte ich auch darum nehmen, weil ich öfters neben dem Unterricht auch Theaterprojekte durchführte und deshalb mit der Auszeit den Stundenüberhang abbauen konte. Die Reisen wirkten sich auch produktiv auf die Unterrichtstätigkeit aus, kam ich von ihnen doch physisch und psychisch erfrischt zurück. Ich hatte ohnehin stets das Bedürfnis nach sowohl geistigem als auch körperlichem Tun. (Das mag mit der oben skizzierten Knaben- und Teenagergesichte zusammenhängen.) Dass ich jeweils sozusagen ‘geerdet’ zurückkam, half mir als Lehrperson, insbesondere im Literaturunterricht, wo Diskussionen im luftleeren Raum wenig zur Persönlichkeitsbildung der Schüler*innen beitragen.