Einführung

«Bevor ich hier mit dem Bau einer Wasserfuhr meine Kräfte verlungere, ziehe ich eher nach Neu-Kalifornien. Ich habe dort bereits einen Onkel, welcher mir schon längst geschrieben hat, dass die ganze Gemeinde hinüberkommen könne. Der Boden ist dort billiger und fruchtbarer als hier, die Arbeit weniger hart und das Leben leichter. Es ist darum unnütz, das Geld hier in den Felsen zu vergraben.»

«Du würdest also wirklich nach Amerika ziehen wollen?», fragt Kathri in tiefster Bestürzung, «auch wenn ich hier bliebe?»

«Wenn die ganze Gemeinde mitkommen kann, wirst du wohl auch nicht fehlen», sagte er zuversichtlich. «Im anderen Falle liesse ich mich halt doch nicht in Bruneggen zurückhalten, wenn ich in Amerika tausend Klafter Boden kaufen kann für das Geld, das ich hier für ein Klafter erhalte.»

«So geh halt nach Amerika, du!», sagt Kathri und eilt heim, um das Gehörte dem Vater mitzuteilen.

Wirklich hat das Versiegen der Brunnen Hosennens schon lange den wie einen Dunkelkeim sich regenden Wunsch ans Licht brechen lassen. Schon eine Woche nach dem Erdbeben hat er einen langen Brief an seinen Onkel in Neu-Kalifornien verfasst und behufs rascherer Beförderung persönlich nach Vispbach getragen und dem Postillon übergeben, welcher ihm erklärte, die Antwort werde kaum vor Weihnachten eintreffen können. Darum seine bisherige Zurückhaltung. Wenn nun aber die Bauern dazu überredet werden sollen, ihr Geld in die Wasserfuhr zu vergraben, muss er sich doch rühren und sie auf Amerika aufmerksam machen, ohne selbst im Vordergrund zu stehen, bis des Onkels Antwort eintrifft.

Dem Bilgischer-Franz berichtet Hosennen von seinem Onkel, der vor fünf Jahren sein Zwergbauerngut im Saastal aufgegeben hat und heute in Amerika ein reicher Mann ist, der mehr Kühe besitze als in Bruneggen alle zusammen, und ihm geschrieben habe, Amerika sei für alle offen, für alle fruchtbar und freigebig, man solle nur kommen. Es vergeht nicht mancher Tag, so unterhalten sich die Leute mit amerikanischen Gesprächen. Schlagworte von billigen Bodenpreisen, grossen Viehständen, siebenährigem Weizen sprechen sich ebenso rasch herum wie die andern Vorteile, dass man drüben nicht wässern müsse, der Mist nicht im Rückenkorb auf die Felder getragen werde und die Berge eben seien.

Liberat Schaller ist nicht so unwissend, um nicht anzuerkennen, dass es andere und bessre Lebensmöglichkeiten gibt als in Bruneggen. Aber von den Hunderten, die in den letzten Jahren ausgewandert sind, haben nur Vereinzelte gemeldet, dass es ihnen gut gehe. Die andern sind stumm geblieben wie Tote, sind bereits verschollen und vergessen; denn Elend kündet sich nicht gern, wenn es von der alten Heimat doch keine Hilfe zu erwarten hat. Elend prahlt nicht, es macht traurig und schweigsam, es versteckt sich lieber, weil Elend trotz zwanzig christlichen Jahrhunderten immer noch den Anstrich von Schande behalten hat.

Dem Lärch möchte Liberat das Abenteuer gönnen, aber sollte die amerikanische Krankheit um sich greifen, würde Bruneggen nicht nur Volk und Geld verloren gehen, sondern durch den damit verbundenen Güterverkauf würden auch noch alle vorhandenen Kapitäler beansprucht und der Boden verteuert. Und um die Wasserfuhr wäre es geschehen.

Die hier zitierte Textpassage stammt aus der Novelle «Verschüttete Quellen» des Walliser Autors und Journalisten Adolf Fux (1901-1968). Sie findet sich im Novellenband «Unseres Herrgotts verschupfte Lehensleute» aus dem Jahr 1937. Zitiert wird sie vom Ethnologen Klaus Anderegg in seinen Ausführungen zu den Ursachen der Walliser Auswanderung.1 Der kurze Ausschnitt ist zwar Fiktion, referiert jedoch eine Reihe wesentlicher Gründe für die in den 1850er-Jahren einsetzende Emigration. Hinter dem Dorfnamen Berneggen lässt sich unschwer das im Bezirk Visp gelegene Dorf Zeneggen erkennen. Nach einem Erdbeben im Jahre 1855 versiegten nicht nur dort, sondern etwa auch in Visperterminen zahlreiche Quellen. In den kleinen Bauerndörfern an den Sonnenhängen über dem Rhone- oder dem Vispertal herrschte seit je her Wassermangel. Einzelne Orte sind bis heute berühmt für ihre spektakulär angelegten Wasserfuhren, die sog. Suonen.

Die eigentliche Wassernot und die entsprechend geringeren Ernteerträge verschärften die soziale Not. Dazu kamen verschiedene Unwetterkatastrophen, besonders die Überschwemmungen durch die Rhone und ihre Seitenbäche in den Jahren 1860 und 1868 und auch extreme Winterkälte und Frühjahrs-Bodenfröste, die die Vorräte in den Kellern gefrieren liess und denen danach kümmerliche Kartoffel- und Getreideernten folgten.

Zu all dem hinzu kam das ab 1850 einsetzende Bevölkerungswachstum. Da die Wasserknappheit die Ausdehnung der Anbauflächen verunmöglichte, war zu wenig Nahrung für die Selbstversorger da.

Im Unterschied zu anderen Kantonen existierte im Wallis kaum Gewerbe und schon gar keine Industrie, die die unterbeschäftigten Leute hätten aufnehmen können. Das lag insbesondere daran, dass die bergbäuerliche Bevölkerung ihre Identität vom Stand als Burger und Grundbesitzer herleitete, so dass ein Ausweichen in andere Berufe als sozialer Abstieg galt. Es gab durchaus Gemeinden, aus denen jungen Männer auszogen, um anderswo als Schreiner oder Maurer den Lebensunterhalt zu verdienen, aber das waren Ausnahmen. Klaus Anderegg erklärt denn auch, weshalb die einsetzende Emigration nicht innovativ war. Die Auswanderer hielten nicht Ausschau nach neuen Erwerbsmöglichkeiten, sondern ausschliesslich nach Land, wo sie wiederum der gewohnten Arbeit nachgehen konnten.

Im Text von Fux fällt der Begriff vom Zwergbauerngut auf. Er benennt das Übel treffend. Angenommen, eine Familie mit vier bis sechs Kindern besass ein Bauerngut, das die Ernährung sicherte und es ermöglichte, durch den Verkauf von Vieh regelmässig zu Geld zu kommen. Wegen der strengen Realteilung erbte nun jedes der Kinder seinen Anteil am elterlichen Gut. Wollten die Söhne und Töchter selbst eine Familie gründen und wiederum bäuerlich wirtschaften, konnten sie das nur mehr auf einem Viertel bzw. einem Sechstel des elterlichen Bodens tun. Die an sich fortschrittliche geschlechtsneutrale Erbteilung – sie gilt im Wallis bis heute – führte zur extremen Parzellierung des Bodens, folglich zu Zwergbauerngütern. Zwar brachte bei der Heirat auch die Frau oder der Mann geerbtes Gut in die Ehe ein, allerdings nur, wenn sie oder er aus dem gleichen Dorf stammte. Das wiederum hatte zur Folge, dass man jemanden aus der Gemeinde heiraten musste, wenn die neu gegründete Familie eine Erwerbsgrundlage haben wollte. Wenig erstaunlich darum, dass zum Beispiel bei Auswandererfamilien aus Visperterminen ein Elternteil häufig nicht aus der Gemeinde stammte.

Was es bedeuten konnte, den oben erwähnten Wassermangel zu beseitigen, sei am Beispiel Visperterminen illustriert. Schon immer bestimmte das Heranführen von Wasser das Leben der Einwohner dieses von extremer Trockenheit geprägten Dorfes. In zwei an schwindelerregenden Berghängen geführten Suonen leiteten die Bauern Wässerwasser aus dem Naztal auf die Wiesen. Damit konnte aber nur ein Teil des nutzbaren Bodens bewässert werden, denn die Wasserfuhren verliefen auf zu geringer Höhe. Wo nicht gewässert werden konnte, gab es lediglich einen Grasschnitt pro Jahr. Das Erdbeben von 1855 liess auch in diesem Bergdorf einige der wenigen Brunnenquellen versiegen. Ab da fehlte vielen Familien eine tragfähige Existenzgrundlage. Zwischen 1850 und 1900 wanderten von den rund 500 Einwohnern 180 aus, allein um 1868/69 waren es 61 Personen (darunter drei Familien mit insgesamt 20 Kindern). Sie emigrierten nach Argentinien, in die Provinz Santa Fe.

In einer weiteren Dürreperiode in den 1890er- Jahren nahm man den früheren Plan wieder auf, vom Nanztal her einen 2.5 km langen Wasserstollen zu bauen. Eine heute unvorstellbare Herausforderung! Es waren 20 Jahre Handarbeit nötig, bis der Tunnel 1916 durch den Berg gehauen und das neue Bewässerungssystem realisiert war. In der Folge konnte die landwirtschaftliche Produktion (Viehwirtschaft und Rebbau) gesteigert werden. Die ökonomische Krise war wenigstens für einige Zeit überwunden.

Einen anderen Grund, ans Auswandern zu denken oder tatsächlich wegzuziehen, hatten die Einwohner von Obergesteln. Wer heute den Gommer Ort passiert, wundert sich über die Steinhäuser auf beiden Strassenseiten. Dass hier keine Häuser aus Lärchenholz stehen, ist auf den Brand vom 2. September 1868 zurückzuführen, der das Dorf nahezu vollständig einäscherte. Beim Wiederaufbau setzte man auf Steinbauten. Nach zwei Jahren konnte man in Obergesteln zwar wieder wohnen, aber die Lebensmittelversorgung war prekär. Eine Folge der Katastrophe war ausserdem eine deutlich erhöhte Sterblichkeit. In den Folgejahren führten diese Umstände zu einer bis zur Jahrhundertwende andauernden Emigration. Um die Familien zu entlasten, zogen vor allem junge Leute weg. Die meisten wanderten nach Kalifornien aus. Dort gab es um 1900 schliesslich mehr Obergesteler als in der Ursprungsgemeinde.

Wiederum anders geartet war die Situation in Simplon. Die Wirtschaft der Pass-Gemeinde war seit Jahrhunderten stark von der Säumerei bestimmt. Eine markante Zäsur erfolgte durch den Einmarsch der Franzosen um 1800. Es kam zu Plünderungen und Zerstörungen, so dass auch bis anhin wohlhabende Burger in Not gerieten. Der Bau einer befestigten Strasse (1801-1805) im Auftrag Napoleons führte dann zu einem markanten ökonomischen Aufschwung. Davon profitierte jedoch nur ein Teil der Simpler. Die zuvor zünftisch organisierte Säumerei wurde abgelöst durch einen Warentransport mittels Gespannen und Kutschen. Nun galt das Recht der Stärkeren bzw. Wohlhabenden. Pferde und Fuhrwerke konnten sich nicht alle leisten. Die soziale Schere zwischen Reichen und Armen öffnete sich. Dies wurde noch durch den Umstand beschleunigt, dass die Fuhrhalter Wiesen zukauften, um genügend Heu und Weiden für die Pferde zu haben. Die Armut der Zukurzgekommenen verstärkte sich wegen der starken Bevölkerungszunahme zusätzlich. (Simplons Einwohnerzahl wuchs von 1811 bis 1880 von 287 auf 435 Personen.) Die landwirtschaftliche Produktionsfläche reichte nicht aus, um die Leute zu ernähren. Simplon wurde so zu einer der am stärksten von Emigration betroffenen Walliser Gemeinden. Zwischen 1885 und 1910 zogen 127 Personen weg, 88 von ihnen wanderten nach Übersee aus.

Die Eröffnung des Gotthardtunnels 1882 führte in Simplon zur nächsten Krise. Der Warenverkehr verlagerte sich vom Simplon zum Gotthard und von den Pferdefuhrwerken auf die Eisenbahn. Ein paar wenige von den Simpeler Fuhrhaltern wurden im aufkommenden Tourismus Hotelkutscher. Die anderen versuchten, fortan mit Viehhaltung und Käseproduktion den Lebensunterhalt zu sichern.

Die Walliser Auswanderung lässt sich im Grossen und Ganzen aus den hier summarisch resümierten sozio-ökonomischen Ursachen verstehen. Diese erklären jedoch nicht sämtliche Emigrationsentscheide. Das ergibt sich schon aus dem Umstand, dass Gemeinden mit ähnlich schwierigen Lebensbedingungen ganz unterschiedliche Wanderverluste aufwiesen. Anderegg macht darauf aufmerksam, dass viele Walliser wegzogen, weil sie sich Gruppen anschliessen konnten, als Einzelpersonen das Abenteuer aber wohl nicht gewagt hätten. Zum Entscheid trug auch oft der Nachahmungseffekt bei. Wenn Verwandte oder Bekannte nach dem Wegzug von erfolgreicher Neuansiedlung berichteten, motivierten sie direkt oder indirekt Leute, die bisher gezögert hatten. Und umgekehrt: Wer von Misserfolgen berichtete, liess die Zuhausegebliebenen auch unerfreuliche Situationen weiterhin ertragen.

Wie auch immer die Zukunftsaussichten eines Einzelnen oder einer Familie in der jeweiligen Gemeinde war, die entscheidende Rolle bei der Emigration spielten oft individuelle Motive. Zum Beispiel bei Pfarrer Josef Imboden (1835-1906) aus St. Niklaus. Er war mit mehreren tausend Franken verschuldet. (Eine überaus hohe Summe für die damalige Zeit!) Eine Gruppe bereits Ausgewanderter schloss mit ihm einen Vertrag, gemäss dem er eine Migranten-Gruppe nach Argentinien begleiten und sich in San Jerónimo Norte und zwei weiteren Kolonien sowohl um die Seelsorge als auch um den Schulunterricht kümmern sollte. Im Gegenzug tilgten sie seine Schulden. Tatsächlich wanderte Imboden 1892 nach Argentinien aus. Zwei Jahre vor seinem Tod kehrte er nach St. Niklaus zurück.

Weitere zwei Beispiele seien hier angeführt. Das eine betrifft Johannes Bodenmann aus Grengiols, das andere Josef Clausen aus Ernen. Zum Fall Bodenmann: Um 1850 herum hatte die Familie so viele Betreibungen am Hals, dass Johannes Bodenmann aus der Gemeinde floh. Frau und Kinder bekamen Vormünder, ihre Liegenschaften und «Fahrnisse» wurden versteigert. Im April 1857 verliessen er und seine Familie gemeinsam mit einer Auswanderergruppe das Wallis. Zur Gruppe gehörten auch sein Bruder Lorenz und dessen Familie. Das Zielland war Argentinien. In Buenos Aires trennte sich die Gruppe. Während Lorenz Bodenmann mit zehn Personen auf dem Rio Paraná nach Santa Fe und von da aus etwa 40 km westwärts reiste (und in der Folge Mitbegründer der Kolonie San Geronimo, des heutigen San Jerónimo Norte wurde), begab sich die Gruppe mit Johannes Bodenmann in die Provinz Entre Rios, wo sie gemeinsam mit anderen Familie am rechten Ufer des Rio Uruguay, gegenüber der Stadt Paysandú die Kolonie San José gründete. Sie wurde in der Folge hauptsächlich von Unterwallisern und Familien aus Savoyen besiedelt. Die Familie Bodenmann siedelte erfolgreich. Im Jahr 1875, 23 Jahre nach dem Konkurs in Grengiols, beglich sie die Forderungen der Gläubiger, soweit diese noch geltend gemacht wurden. Von Johannes Bodenmann ist auch ein 17-seitiger Brief erhalten, worin er detailreich die Reise nach Argentinien und die Ansiedlung schildert. (Der Brief findet im Kapitel «Argentinien, das Hauptzielland der Oberwalliser Auswanderer».)

Auch Josef Clausen aus Ernen (1855 geboren) bedrückten Schulden. Er hatte zahlreich Geschwister, zeichnete sich durch besondere Intelligenz aus, fand jedoch keine ihm zusagende Beschäftigung. Eine Zeitlang arbeitete er als Lehrer, dann als Polizist. Im Alkoholrausch liess er sich zum Kauf eines Wirtshauses überreden.2 Zu einem viel zu hohen Preis. Daraus resultierte eine Schuldenlast, aus der er nicht mehr herausfand. In Absprache mit seiner Frau suchte er den Ausweg in einer Flucht nach Argentinien. Sieben Jahre nach der Emigration rechtfertigte Clausen sein Tun in einem Brief an seinen Bruder August. Darin drückte er das Bedauern aus, dass die Geschwister und Verwandte seinetwegen Unbill haben erdulden müssen. Wenn die Leute über ihn lästerten, sei ihm das egal, aber dass auch seine Geschwister dies täten und so seine Kinder das Schicksal ihres unglücklichen Vaters entgelten liessen, das war für ihn schwer zu schlucken. Besonders, dass der Schwager im Familienrat ihn als den grössten Lügner und dergleichen beschimpft habe. Wenn man so im Netz sitzt wie ich, sei eine Flucht unvermeidlich. Und mit dem Kauf [der erwähnten Wirtschaft*] am Halse und der sicheren, unentrinnbaren Aussicht, früher oder später zu Grunde zu gehen, wem ist da zu Mute, fleissig und sparsam zu sein?* Ja, er habe *durch leichtsinniges, aber nicht boshaftes Betragen* den Untergang beschleunigt, aber wer *Malheur* habe, trinke *dann oft zuviel Liqueur*. So sei ihm schliesslich nichts anderes übriggeblieben, *als freiwillig zu sterben oder alles im Stich zu lassen und dem Unglück zu entfliehen, was ich in Übereinkunft mit meiner Frau und mit ihrer Hilfe getan habe.*3

Im Brief kommentierte er auch die Urteile, die wegen der Auswanderung von der Familie zu hören bekam. Der Bruder Franz habe ihm vor Jahren in einem Brief vorgeworfen, er habe seine Kinder in Armut gestürzt und ziehe sie fern vom Vaterland auf (was belegt, dass er Frau und Kinder hatte nachkommen lassen). Dort sei ja weder Erziehung noch Religion und Zivilisation. Dies wolle er nun nachträglich beantworten. Auch ohne den Unglückskauf wäre ich daheim mit meiner Familie niemals auf einen grünen Zweig gekommen, nicht wegen der äusseren, aber wegen der inneren Misere. Nie habe er bedauert, hierhergekommen zu sein, aber es reue ihn noch, dass ich nicht früher her­gekommen bin. Zwar habe er seine Familie nicht in ein Land Kanaan geführt, aber hier stehe jedem Kind der Weg offen, mit der Zeit ein anständiges, glückli­ches Auskommen zu erwerben, und wenn man mir einredet, im Wallis wäre das auch der Fall gewesen, so ist das einfach nicht wahr, und wenn man sagt, dass nur Lumpen und dergleichen hierhergehen, so ist das in der Regel nur im Oberwallis der Gebrauch und sonst nirgends.

Nach dem Tod seiner Frau kehrte Josef Clausen nach Ernen zurück. Dort amtete er einige Jahre als Friedensrichter. Er starb im August 1936. Seine Kinder und deren Familien blieben in Argentinien. Erwähnenswert ist, dass einer von Clausens Ururenkeln, der 1962 geborene Néstor Clausen, als Fussballer Karriere machte. Mit seinem Verein CA Independiente4 gewann er 1984 die Copa Libertadores und den Weltpokal und wurde zwei Jahre später mit der argentinischen Nationalmannschaft Weltmeister. Von 1989-1994 kehrte er für kurze Zeit in die Heimat seiner Vorfahren zurück und spielte für den FC Sion. Heute (2020) ist Néstor Clausen in Argentinien als Trainer tätig.

Der von Clausen verwendete Ausdruck innere Misere lässt sich in seiner Bedeutung nicht eindeutig fassen. Die Tatsache, dass der Mann überdurchschnittlich intelligent war, legt die Vermutung nahe, dass er intensiver reflektierte als andere und darum die sozialen Normen der katholisch geprägten kleinbäuerlichen Gesellschaft als beengend empfand. Was getan und was gedacht werden sollte und durfte, das gaben zu dieser Zeit neben den Vätern die katholischen Priester vor, sowohl von der Kanzel herunter als auch in «offenen Briefen» und in Leserbriefen in der Lokalpresse. Wie sehr sich das Beharren auf Herkömmlichem auch politisch niederschlug, zeigte sich zum Beispiel an der Revision der Kantonsverfassung von 1852. Darin kam die politische Haltung des Katholizismus explizit zum Tragen. Die Revision bedeutete eine Kampfansage gegen den Liberalismus, der allmählich auch in Kirche und Religion Einfluss gewann.5

Dass auch diese klar reaktionäre Strömung bei manchen liberal denkenden Zeitgenossen den Auswanderungsentscheid beeinflusste, wurde in Zeitungen vehement bestritten. So im «Walliser Boten» vom 14. Mai 1870, wo es u.a. hiess, es sei wirklich lächerlich, Alles [!] mit Gewalt auf das politische Gebiet herüberzureissen. Anlass war ein Artikel, worin man einen Auswanderer als eine Art politischen Märtyrer bezeichnet hatte. Im «Walliser Boten» liess man den Mann aussagen, dass ihn keine politischen Ansichten aus dem lieben Wallis verdrängt hätten. Andere Auswanderungswillige nannten dagegen durchaus auch politische Gründe für ihren Entscheid. So Josef Imwinkelried aus Glis, der bei der Befragung durch den Briger Präfekten, wer ihn zur Uebersiedlung nach Amerika angeworben habe, u.a. zu Protokoll gab: Erstlich die Beschwerden wie wir haben bezüglich der Regierung und der Gemeinden, andererseits die Briefe von meinen Cameraden Bartholome Blatter und Dominik Zumofen; ich gehe in dieselbe Colonie St. Hieronimo genannt. Dort erhalte er unentgeltlich Äcker und Weiden, da die Regierung dort sie mit Freuden aufnehme laut Briefen von Kameraden, die daselbst sind.

Auch der Einzelauswanderer Theophil Werlen aus Unterbäch schrieb im Juli 1890 an seine Mutter, sie solle für ihn zu einem Andachtsplatz in der Nähe gehen, um der Mutter-Gottes für die Hilfe zu danken, die er von ihr erhalten habe. Und fügt an, weiter habe er von sich nichts zu erzählen, ausgenommen dass ich nun einmal mit dem Kopf bis an die Mauer bin, mir hats nicht gefallen in Unterbäch. Mündlich überliefert ist, dass Werlen bei einigen Familien im Dorf wegen seinem freien Auftreten und seiner Intelligenz in Ungnade gefallen war. Es habe öfters Streit gegeben, weil die tonangebenden Familien glaubten, nach ihrem Diktat habe sich jeder zu fügen. Deswegen sei Theophil Werlen Unterbäch verleidet. (Was er der Familie in Unterbäch in seinen Brief ausserdem schrieb, darüber wird im Kapitel «San Jerónimo Norte – von der Gründung bis zur Jahrhundertwende» berichtet.

Gerade bei jungen Leuten dürften in der Zeit der Identitätssuche angesichts der Zwänge, denen sie sich ausgesetzt sahen, die Zweifel gewachsen sein, ob sie in Zukunft überhaupt im Dorf oder im Wallis leben wollten. Die Unvereinbarkeit von gesellschaftlichen und persönlichen Erwartungen führten in zahlreichen Familien zu Spannungen. Manche dürften froh gewesen sein, wenn ein besonders störrischer Sohn sich zu emigrieren entschloss. Von denen, die wegzogen, gehörten viele nicht zu den Pflegeleichten. Sie durchlebten eine Zeit des inneren und oft auch äusserlichen Rumorens. Verständlich, wenn man dem einen oder anderen, der einen oder anderen Familie keine Träne nachweinte. Es mutet aber an wie ein Nachtreten, ein besonders übles Foul im Fussball, wenn der Pfarrer Peter Josef Studer von Visperterminen um 1880 schrieb: Vor ungefähr 20 Jahren gab es in unserer Gemeinde viele Streitigkeiten und Schlägerein, besonders unter jungen Leuten. Gott sei dank aber hat dieses in unseren Tagen aufgehört, weil diese Prügelhaufen unsere Gemeinde verlassen haben und nach Amerika ausgewandert sind, wo denselben ihre Prügellust sicher vergangen ist.

Zu einem gehässigen Kommentar sah sich schon 1865 ein Korrespondent im «Walliser Wochenblatt» herausgefordert, als er von der zwischen uns und Amerika liegenden Distanz schrieb*,* diese rücke *Manchem [!] einen verdrehten Kopf oder das darin zerfahrene Räderwerk wieder zurecht. Arbeitsscheue, hochfahrende, allen Mitmenschen lästige Taugenichtse können in Amerika in der Schule der Noth noch recht gute Menschen werden; darum allen diesen recht schön Glück auf die Reise.* (Beides zitiert bei Klaus Anderegg.)

Demgegenüber schreckten die Behörden über den in manchen Dörfern sich abzeichnende Exodus auf und veranlassten 1863 die bereits angesprochene Befragung, die sog. «administrative Untersuchung». Man machte für die steigende Zahl von Übersiedlungen nach Amerika Werber verantwortlich. Auf die Frage des Briger Präfekten, wer sie angeworben habe, antworteten einzelne überaus selbstbewusst, wie jener 36-jährige «Feldarbeiter»: Ich mich selbst, ich habe das Courage dahie. Klaus Anderegg schreibt denn auch: Für diese Auswanderer wurde «Ame­rika» prospektiv zum ersehnten Freiheitsraum, in dem sie fern von der heimischen sozialen Kontrolle ihren Wünschen und ihren Vorstellungen gemäss leben konnten.

Die Emigration wurde von einem Grossteil der Oberwalliser Meinungsmacher abgelehnt. Das kam in den Stellungnahmen der Korrespondenten des «Walliser Wochenblatts» deutlich zum Ausdruck. Dort kam im Januar 1868 aber auch jemand zu Wort, der differenzierter urteilte:

Wir wollen unumwunden unsere Ansicht hierüber abgeben. Derjenige, welcher im Wallis, mit Arbeiten, sein anständiges Auskommen hat, bleibe hier. – Derjenige aber, der trotz seiner Arbeitsamkeit, eine kümmerliche Existenz fristet – das Reisegeld zusammenbringt und zudem in den Seinigen hübsche Arbeitskräfte mitnehmen kann, wie das oft der Fall ist, der mag scheiden – er hat ja wenig zu verlieren und Alles zu gewinnen. (...) Wir haben Briefe gelesen, die darüber keinen Zweifel zulassen – wer arbeiten kann und will, hauset alldort viel leichter – die Arbeit ist zwanzig Mal lohnender – der Boden dankbarer – im Wallis haben wir fast alljährlich Frühlingsfröste und Sommerdürren, welche die Hoffnung des Landwirthes versengen und ihm endlich fast den Muth zur Arbeit rauben.6

Klaus Anderegg vermutet, dass es sich beim Korrespondenten um Pfarrer Kaspar Amacker aus Binn handelte.


  1. Klaus Anderegg gehört zu den profundesten Kennern der Auswanderung. Er trug im Verlaufe seiner Forschertätigkeit eine Fülle von Originaltexten zusammen, hauptsächlich briefliche Korrespondenz zwischen Ausgewanderten und den daheim gebliebenen Familienangehörigen und Verwandten. Nicht nur im Wallis selbst, sondern bei Nachkommen der Emigranten in Argentinien. Einen Teil des Briefkonvoluts habe ich für ihn transkribiert und kommentiert. Originale und Transkriptionen werden im Staatsarchiv in Sitten aufbewahrt und stehen künftiger Forschung zur Verfügung. ↩︎

  2. Alkoholmissbrauch war auch im Wallis nicht selten ein zusätzlicher Treiber der Not. ↩︎

  3. In: Josef Marie Imhof. Auswan­derung aus Zwang, in: Wir Walser, 20. Jg., Heft 2 (1982), S.13ff (zitiert bei Klaus Anderegg). ↩︎

  4. Nach Boca Juniors und River Plate und Racing Club ist Independiente mit 16 Meistertiteln der vierterfolgreichste Verein in der ersten Liga Argentiniens. ↩︎

  5. Man bezeichnet die ab der 2. Hälfte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommende antimoderne Haltung als Ultramontanismus. Einfluss gewann sie in den deutschsprachigen Ländern und in den Niederlanden. Der romtreue Katholizismus richtete sich gegen soziopolitische Reformen, deren Ziel es war, Demokratie und Menschenrechte durchzusetzen. Ausgangspunkt waren entsprechende Dekrete von Papst Pius IX. Ein Höhepunkt dieser Tendenz zeigte sich ab 1910 mit der Verpflichtung der Priester, den Antimodernisten-Eid abzulegen. Dieser verpflichtete sie, alle in einer Liste aufgeführten «Irrtümer» zu bekämpfen. ↩︎

  6. Zitiert bei Klaus Anderegg. ↩︎