San Jerónimo Norte – von der Gründung bis in die 1920er-Jahre

Das Gemeindegebiet von San Jerónimo Norte (fortan SJN) umfasste 6'400 Hektar. Jeder Kolonist erhielt davon ein Stück von 33 ha, ein Quadrat mit einer Seitenlänge von gut einem halben Kilometer. Nach fünf Jahren landwirtschaftlicher Bebauung wurde der Boden Eigentum des Bauern. Die als «Plaza» ausgesparte Konzession, vorgesehen für öffentliche Gebäude sowie für Verkaufsläden und Werkstätten, die Plaza also weggerechnet, reichte der «Campo» für 190 Siedler. Schon um 1870 war alles verteilt. Auch wenn man die landwirtschaftliche Fläche bis zur Jahrhundertwende um 3'800 ha erweiterte, wurde es bald zu eng in der Kolonie. Schon lange vor 1900 gab es für Nachwanderer keinen verfügbaren Boden mehr.1 Ihre Aussichten waren trübe; sie konnten sich als Teilpächter versuchen oder mussten sich als Knechte oder Wanderarbeiter in die Abhängigkeit neureicher oder zumindest wohlhabender Migranten begeben. (Was das bedeuten konnte, werden wir etwas später an Beispielen erläutern.) Wenn sie überhaupt in SJN blieben. Um Land zu erwerben, fehlte ihnen das Geld – ganze Konzessionen oder Teile davon wurden inzwischen gehandelt, allerdings zu Preisen, die nur gut situierte Siedler bezahlen konnten. (Wer am bäuerlichen Gewerbe keinen Gefallen fand oder damit nicht zurechtkam, fand genügend Interessenten für sein Land. Manche wählten danach die Option, auf der «Plaza» mit einem Gewerbe, z.B. einer Gastwirtschaft neu zu beginnen.) In der 80 km nördlich, in Richtung Chaco gelegenen Sekundärkolonie Ambrosetti war es hingegen noch möglich, neu vermessene Konzessionen zu erwerben. Man bekam sie zu Bedingungen, die es erlaubten, die Schulden mit den Jahren abzubezahlen. So wie der 1892 mit seiner Familie von Ausserberg weggezogene Johann Christian Theler, der nach Stationen der Unselbständigkeit diese Möglichkeit wählte. Seine Lebensgeschichte wird ein eigenes Kapitel beanspruchen.

Die heute noch greifbaren brieflichen Erfahrungsberichte früher Migranten an die Walliser Angehörigen klingen zumeist positiv. Wie die Erzählung von Peter Arnold aus Brig (vormals Simplon). Er verliess 1863 als 70-Jähriger (!) mit dem dritten und letzten von Lorenz Bodenmann organisierten Migrationszug das Wallis. In den beiden Briefen, die uns vorliegen, zeigte er sich überaus zufrieden über den Neuanfang in Argentinien. Dem Vetter schildert er auch, wie gut sie von den Siedlern in SJN empfangen worden seien. Stolz erzählt er, er habe bereits ein massives Haus gebaut und dieses auch bequem eingerichtet. Knapp ein Jahr nach dem Start in SJN, hält er fest, würden in seinem grossen ferich [umzäunte Weidefläche] eine schöne Anzahl Rindvieh sowie fünf Pferde weiden. Er besass auch Schweine und Hühner. Das ganze Jahr über wachse für alle Tiere Gras genug. Ja [lie]ber Vetter, ich bin zufrieden und vergnügt, das [Land] haben wir von der Regierung erhalten, so wie [u]ns Lorenz bodenmann gesagt hat, nemlich 760 Fische[l]2 ohne Stock u. Stein, aber wie ein tisch. Ich mechte wünschen / wenn alle arme Simpeler aus dem Schnee komen könnten zu uns, alle arbeit geht geringer, hier müssen es die thiere machen / die Ochsen und Pferte, zu esen und zu trinken hat man hier genug ohne [zu] sparen, meine hünde esen mehr fleisch als die hungrigen Herren und unterdrücker fres[s]en (...)3 Sein Hauptproblem sei, dass er nicht alle Kühe melken könne; Knechte bekomme man nämlich keine, so dass man Hilfe hätte. Sie wollen lieber im Wallis verreken.

Und dem Sohn schreibt er im Oktober 1864, man könne zweimal im Jahr anpflanzen. Solte das eine fehlen so hat man das andere; und Solte auch beide fehlen, So hat man füch [Vieh] zu schlachten (...) – Erstaunlicherweise baute er schon im ersten Jahr auf knapp drei Hektaren Getreide an. (Auffallend deshalb, weil die Walliser Siedler sich hauptsächlich der Viehzucht widmeten.)

Als Dokument des Scheiterns liest sich demgegenüber ein Text vom April 1868, zehn Jahre nach der Gründung der Kolonie. Es ist der Brief von Peter Josef Karlen an die Brüder im Wallis. Als zentrale Botschaft enthält er die Warnung, sie sollten ihm keinesfalls folgen. Schon auf der Überfahrt hätten sie Todesängste ausgestanden, seien doch neun Schiffe untergegangen. Auch ihres sei beschädigt worden, aber sie seien mit dem Leben davongekommen. Von dort bis nach Boniseiris [!] sind wir von den Schiffsleuten furchtbar beraubt worden, von dort sind wir glücklich zur Kolonie Santhironimo gekommen. Und jetzt ist von 100 Wörtern keines wahr, was daheim Christian Williner uns gesagt hat

Inzwischen habe er schon so viel Zorn und Verdruss gehabt. Ich bin schon 2 Monat tödlich krank im Bett gewesen, auch sind mir die 2 kleinsten Kinder gestorben.4 Mit seiner Frau habe er überdies grosse Schwierigkeiten gehabt – wie zuvor in 20 Ehejahren nicht. (Karlen dürfte um Zeitpunkt der Auswanderung über 40-jährig gewesen sein.) Der Verdruss mache ihn fertig. Jetzt habe ich kein Geld, kein Land u. keine Herberg. Und ebenso schlimm: Mein Bruder Christian hat sich versoffen, dass ich mit ihm nichts mehr hatte schaffen können. Jetzt warne ich euch, dass von meinen Brüdern keiner mehr nachkomme, (...) Der Brief endet mit der Hoffnung, wenn er am Leben bleibe, wolle er später besser schreiben.

An der Cholera starben damals 60 Kolonisten. Dass die Familie Karlen, kaum hatte sie in SJN Fuss gefasst, Opfer der Epidemie wurde, dürfte der Hauptgrund für die Hoffnungslosigkeit gewesen sein. Abgesehen von der Seuche ging es den meisten Kolonisten damals wirtschaftlich gut. Karlen gehörte anscheinend zu den ersten Nachwanderern, für die es keine Konzessionen mehr gab. Da uns keine weiteren Briefe von ihm bekannt sind, wissen wir nicht, wie es ihm und seiner Familie später erging.


  1. 1863 besassen 107 Siedler 115 Konzessionen; sieben Jahre später lebten in SJN 236 Familien, insgesamt 1210 Personen. 180 Familien stammten aus dem Oberwallis. ↩︎

  2. Das ergäbe pro Fischel demnach etwas mehr als 430 m^2^. Das Walliser Flächenmass Fischel entsprach an sich einer Grösse von 575 m^2^. Womöglich variierte die Einheit von Ort zu Ort. ↩︎

  3. Peter Arnold begleitete Lorenz Bodenmann als «Sprachkundiger», als dieser nach Genua reiste, um dort eigenständig die erste Schiffspassage nach Argentinien zu organisieren. Vgl. dazu das Eingangskapitel zur Walliser Auswanderung. ↩︎

  4. Einzelne Familienmitglieder dürften an Cholera erkrankt sein. Am Ende der 1860er- und zu Beginn der 1880er-Jahre erlebte die Kolonie Cholera-Epidemien. ↩︎