Der Heimatverlust des Einzelauswanderers Theophil Werlen aus Unterbäch

12. Mai 2021

Theophil Werlen haben wir bereits in der Einleitung genannt, als eine der Personen, die sich mit den starren Normen des Oberwallis schwertaten und auch darum die Emigration als Ausweg wählten. Im Brief vom 6. Juli 1890 an Mutter und Bruder schreibt er gegen Ende, er sei halt nun einmal mit dem Kopf bis an die Mauer gestossen; ihm habe es immer nicht gefallen in Unterbäch. (Ein halbes Jahr zuvor war er nach Argentinien emigriert.) Erstaunlicherweise erwähnt er bloss nebenbei, dass er als Schuster arbeite und auch schon etwas Erspartes habe. Das wolle er für seine letzte Wasserreise ausgeben. (Mit der auffälligen Formulierung meint er zweifellos die Rückwanderung.) Tatsächlich plagt ihn schlimmes Heimweh. Als er nach einem halben Jahr auf seinen ersten Brief noch keine Antwort erhalten hat1, schreibt er in der Einleitung des nächsten Briefes: Ich wills noch einmal versuchen, ob es vielleicht diesesmal möglich währe, etwas zu vernehmen von meinem heimatort / welches ich ja nicht vergessen kann, wen ich schon so weit entfernt bin, dass man fast glauben möchte, es währe nicht mehr möglich, hir zurück zudenken.

Inzwischen hat er mit Walliser Einwanderern gesprochen und dabei – so die Behauptung – fast nur Negatives gehört. Vernichtend urteilt er über die Agenturen. Sie würden den Leuten das Blaue vom Himmel herunter versprechen, um sie blindlings (...) ins grössere Elend, als sie bis dahin gewesen sind, fahren zu lassen. Dass Auswanderer, die hier im Ehlende hoken, Positives nach Hause schreiben, ist ihm unbegreiflich. Ich finde keinen im Wohlstande. Viele würden «Amerika» inzwischen verwünschen. Anhand von Beispielen sucht er dies zu illustrieren. Etwa mit dem sogenante[n] Friburger, der in Eischoll seiner Erfolge wegen viel gerümt werde, in Tat und Wahrheit jedoch nichts Eigenes besitze. Und über Johann Weissen berichtet er, der würde gerne ins Wallis zurückkehren, wenn er dort etwas Vermögen häte. Ignatz Zumoberhaus andererseits komme nicht mehr «nach Europa» zurück. Er sei ein Säufer.2 Sein im Wallis zurückgelassenes Vermögen könne man den Verwandten verteilen. Ein jeder / der hier viel trinkt, fäl[l]t an einem schönen Morgen Tod dahin. Auch über eine Familie Furer weiss er zu erzählen. Von denen seien einige bereits in der ewikeit / die übrigen hir u dort verteilt (d.h. sie konnten nichts Eigenes aufbauen).

Werlens pflegt eine kraftvolle Ausdrucksweise; aus seinem Text sprechen Grimm, Enttäuschung und der Schmerz über die verlorene Heimat. Letzteres kommt auch am Ende des Briefes in der Aufforderung an den Bruder zum Ausdruck, er solle für sich und die liebe Mutter sorgen: [E]rst wen man soweit entfernt ist / denkt man an die Eltern u. Geschwisterte.

Theophil Werlen zeigt nicht nur seinen Schmerz, sondern schaut auch selbstkritisch auf seine rebellische Jugend zurück. Das lässt schon die Aussage erkennen, er sei jeweils mit dem Kopf gegen die Mauer gestossen. Vier Monate später bekommt er erstmals Antwort. Von Freudentränen überwältigt, schreibt er noch am gleichen Tag zurück. Ein Teil des Briefes wird zur Selbstanklage:

Sie melden mir, dass sie schätzen werden den Augenblick / wo wir uns wider sehen werden / ich fieleicht auch. Ich werde nichts mer wünschen auf erden, nachher wen ich noch einmal meinen geliebten Bruder mit unserer theuren Mutter [gesehen habe] gebe Gott / wan den einer in der weiten Welt ist / erkent er erst die lieben Eltern u. bereut seine Sünden / mit denen er hat beleidigt seine Elter[n] u. Geschwister, noch einmal bitte ich Euch / liebe Mutter u. Bruder / um Verzeihung für alle Beleidigungen / denen ich schuldig wahr. (...)

Zum Vergleich eine Textstelle aus einem Brief von Friedrich Dürrenmatt an seine Mutter – vom 24.11.1942 anlässlich ihres 56. Geburtstags:

Du bist mein Bestes auf dieser Welt und ach, wie gross ist die Kluft doch wiederum zwischen mir und Dir. Wie oft habe ich dich nicht verstanden, wie oft habe ich Dich beleidigt und gequält, wie oft hast du über mich weinen müssen. Wie tust Du mir leid. Du hättest einen tausendmal besseren Sohn verdient, als ich es bin. Ich gäbe alles drum, wenn ich die Wunden heilen könnte, die ich Dir geschlagen. [...]

Man erfährt nun auch mehr über seine Erwerbstätigkeit. Er werde in Kürze die Schusterstube verlassen, um als Erntearbeiter aufs Land zu gehen. Während der Sommerzeit sei draussen mehr zu verdienen. Der Sommer bringe aber auch eine Hitze gleich der Hölle und sei darum eine peinliche Zeit. (...) [V]on anbrechendem Tag bis in finstere Nacht Weizen zu gabeln, sei strenge Arbeit. Immerhin, ergänzt er, finde in SJN jeder Arbeit, wohingegen In Nordamerika dagegen Tausende arbeitslos seien.

Werlen verdingt sich als Wanderarbeiter, obwohl er seit Monaten an einer Handverletzung laboriert. Er tue es auch, um das Geld für die Rückwanderung zusammenzubringen. Gleichwohl behält er seinen Stolz; den Wallisern will er nach der Rückkehr nicht als Gescheiterter begegnen. Wenn er gesund bleibe und wieder zurück sei, brauche er jedenfalls manchem Schuster im Wallis den Hut nicht zu lupfen. Das lässt erkennen, dass mangelndes Selbstbewusstsein nicht sein Hauptproblem ist.

Über die Kolonie SJN erfährt man aus seinen Briefen wenig. Dafür von Sturmwinden, bei denen man keinen Augenblick wisse, wo der Wind nicht mit samt dem Haus durch die Lüfte robt.3 Und auch eine Heuschrecken-Invasion schildert er. Die gefrässigen Insekten kämen so dicht wie bei uns im Winter / wen es am diefsten schneit. (Wer schon Bilder oder Videos von Wanderheuschrecken-Schwärmen gesehen hat, weiss, wie treffend der Bildvergleich ist.) Dem folgt übergangslos und in eigentümlicher Orthografie das Thema «Revulition». Darüber scheint man auch im Wallis informiert gewesen zu sein. Werlen beruhigt die Seinen. Es sei bloss ein kleiner Krieg zum Wohl vom Lande gewesen, aber wir Einwanderer mischen uns nicht in solches Treiben. Im Brief vom März 1893 (mehr als drei Jahre später) berichtet er dann ausführlicher über ein politisches Ereignis, über eines, bei dem er selber mittat:

Die wichtigste Neuigkeit ist, dass ich in Amerika schon in den Krieg gezogen bin / und zwar mit Trommel und Gewehr, und mit warem Curage gegen den Feind, für die Freiheit der Arbeiterklasse. Glück und Unglück, das der Feind nicht mehr zum Anschein kam (es kam also zu keinem Gefecht), sonst wer weiss, ob ich Euch Euer letztes Schreiben noch beantworten konnte.

Mit wahrem Eifer, mit der Hoffnung als Sieger hervorzugehen, ergriff ich mein Gewehr nur für die Freiheit der Unterdrückten zu kämpfen und vieleicht mein Leben zu opfern. Wozu man mir noch die Trommel als Tambour aufbürdete, um das Heer mit wenigstens einer Trommel zu füren und zu versammeln. Was wäre ein schönerer Todt gewesen als für Freiheit und Gerechtigkeit zu sterben. Die Ursache [des] genannten Feldzuge[s] war eine ungerechte Steuer von der Seite der Regierung / welche allein Argentiner sind.

Im früheren Brief war von einem anderen Ereignis die Rede. Diesmal berichtet er über den unmittelbar zurückliegenden Aufstand der Kolonisten gegen die Steuerforderungen der Provinzregierung in Santa Fe. Mit den Ausdrücken Feldzug und Heer assoziiert man Kriegsgeschehen. Tatsächlich zogen die Migranten, bewaffnet mit Flinten und bäuerlichem Werkzeug wie Gabeln und Sensen, zur Provinzhauptstadt. Sie taten es erfolgreich. (Das war im Übrigen nicht der einzige Marsch der Walliser Migranten in die Provinzhauptstadt. Sie taten es auch, als der Gouverneur die Ziviltrauung einführen wollte. Wenn es um religiöse Überzeugungen ging, liessen sie nicht mit sich reden. Der Schweizer Konsul hielt sie denn auch für unruhige Elemente.)

Dass Werlen über sein Mitwirken am Protestmarsch nach Santa Fe schreibt, er sei bereit gewesen, für Freiheit und Gerechtigkeit zu sterben, erscheint dramatisch überhöht. Der Behauptung, es sei um die Freiheit der Arbeiterklasse gegangen, widerspricht das tatsächliche Geschehen. Der Protest richtete sich gegen die Getreidesteuer. Der Schreiber gebraucht Begriffe aus dem Kontext der europäischen Arbeiterbewegung dieser Zeit. Damals begannen sich die Fabrikarbeiter Europas als gesellschaftliche Klasse zu verstehen und zu organisieren. In Argentinien taten sich die Einwanderer (sie hatten kein Stimmrecht) zu solidarischen Gemeinschaften zusammen. Sie legten damit den Grundstein für die späteren Gewerkschaften. Die Walliser Migranten blieben der Bewegung fern. Sie verhielten sich weitgehend apolitisch. Protestieren gegen höhere Steuern ja, Kampf gegen Ausbeutung jedoch gehörte nicht zu ihrer Wirklichkeit. (Aktuell waren für sie die Autonomie auf Gemeindeebene, u.a. die Ernennung von Richtern.) Umso erstaunlicher, dass Theophil Werlen das Ereignis in diesen Kontext stellt. Sowohl als Schuhmacher als auch als Erntearbeiter hätten ihn die Steuererhöhung kaum betroffen. Ein möglicher Grund für die Umdeutung könnte Werlens soziale Situation sein. Grundsätzlich besteht für ihn wenig Anlass, sein Leben für die Sache der Landbesitzer zu riskieren. Sozial zu ihnen aufzusteigen, ist für ihn, zumindest in SJN, kaum möglich. Vielleicht stellt er den Marsch nach Santa Fe darum als Arbeiteraufstand dar. Unbeantwortet bleibt auch die Frage, woher er Kenntnisse über die westeuropäische Arbeiterbewegung hat.

All dies stützt indes die Vermutung, dass Theophil Werlen das Wallis verliess, weil er sich gedanklich nicht an die Grenzen des dort Üblichen halten wollte und konnte. Trotzdem leidet er weiterhin unter Heimweh. Allerdings ist nun nicht mehr von Rückwanderung die Rede als vielmehr vom Wunsch, als Besucher ins Wallis zu reisen. So wie es zahlreiche Siedler seit längerem tun.

Im Brief vom März 1893 zeigt er auch überschäumende Freude, nicht nur darüber, einen Brief von der Familie erhalten zu haben: Aber wie steigerte sich meine Freude, eine wirklich getroffene Abbildung von Mutter und Bruder zu erblicken. Entzückt fielen meine Blicke in die Photographie, welche so lieblich mich anschaute, mit Tränen in den Augen lotzte und mit Wehmut ich sie küsste, aber nur das Papier erwiederte [!] meine Küsse.

Sprachlicher Exkurs: Zum Verb «lotzen»: Der Ausdruck wird heute auch im Walliser Deutsch nicht mehr verwendet; enthalten geblieben ist er im standardsprachlichen Verb «glotzen». In Werlens Gebrauch bedeutet das Verb 'scharf sehen'. Es gab auch das Nomen «lutz», womit ein Guckfenster im Stall oder eine Wandöffnung in der Küche bezeichnet wurde. Während das Wort aus dem Walliser Dialekt verschwunden ist, gehörte es noch vor wenigen Jahren zum Wortschatz zumindest eines Mannes in San Jerónimo Norte. Edison Eggel, Nachfahre in vierter Generation, redete, als meine Frau und ich 2014 das Dorf besuchten, mit uns in einem uralten Walliser Deutsch. Als wir ihm zuerst auf dem Friedhof begegneten, wussten wir bereits, dass er zu den wenigen Leuten gehörte, die sich im Walliser Dialekt noch verständigen konnten. (Sie waren alle im hohen Alter; wie viele von ihnen im Jahr 2021 noch leben, wissen wir nicht; mit ihnen wird jedenfalls auch das «Vallesano», der altertümliche Walliser Dialekt verschwinden.) Darum redeten wir ihn auf Schweizerdeutsch an. Und so begann er seinerseits das Gespräch:

Dü redisch nit richtig de Walliser. Vo wa chomesch dü? – So muesch e chli langsamer mit mier rede; ich versteh nit so giot. De Walliser, das verstah ich giot, giot. Die Sprach isch gliich, aber der Ton isch andersch. Wen du redesch langsamer, de versteh ich vill besser dich.

Auf die Frage, warum er noch so gut Walliser-Deutsch rede, meinte er: Ja lotz. [!] Derheimu mine Vater und mine Mueter hend mit isch de Walliser gredet. Und mier händ spaniolische g'antwortet. Sie hend mit iis immer de Wallisertitsch gredet. Das isch geblibed. (…) Aber ich habe immer Luscht uber das ghäbet. Dann tuusigninhunderteineninzig sind mir i de Schwiz ggange. Ich habe en bitz e – wie seit mu – einzig gredet, va de Ton noch emal. Und derna sind Bekannti vo der Schwiz vill cho, und heimer nomal fange redä. Simmer drimaal i der Schwiz ggange, heimer da gredet. Und ich habe immer Luscht uber de Sprach ghäbe, (…) Ich habe nit usgwanderet; ich bin Argentinier.

Schon im Juni 1893, wenige Monate nach dem letzten Brief, beantwortet er den nächsten. Der erste Satz an die geliebten Hausgenossen lautet: Da ich wieder im Besitze eines ziemlich kurzen u. nur mit Elendsnachrichten angefühlten geduldigen Stückes Papier bin, welches am 7. Juni d. J. von Unterbäch abging, will ich mich beeilen / um Selbes als Antwort widerzusenden. In Argentinien gehe das Leben seinen gewohnten Gang, die Staatsordnung befinde sich immer noch in der Krise, aber da er von drüben Schlimmeres vernehme, sehe er sich am Ende doch besser hier weder dort. Man hat ihm von Fehljahren ebenso berichtet wie über häusliche Unglücke. Deshalb möchte er am liebsten jeden Sonntag den Wochenverdienst in Eure Kasse legen. Daraufhin legt er ausführlich dar, warum ihm das nicht möglich ist. Mit der Post liessen sich keine Geldsendungen schicken, und die Banken würden überhöhte Gebühren verlangen. Ausserdem stünden diese so fest wie im Wallis die Blätter der Bäume im Herbst, sie könnten heute für grosse Beträge garantieren und morgen fallieren. Beinahe versteckt innerhalb dieser Schilderung bemängelt er den ungenügenden Arbeitseifer der Weiber vor Ort (im Zusammenhang mit der Wäsche, die er von Frauen besorgen lässt) – und verknüpft damit den Wunsch, eine Lebensgefährtin aus dem Wallis zu haben. Wen vielleicht Eine oder die Andere in Unterbäch des Misttragens überdrüssig wird, rathe ich ihr, hirher zu kommen, dafon weis man hier nichts. Mann [!] trifft jedes weibliche Geschöpf zu jeder Stund im Zimmer an. Stellen für Dienstmädchen gibt es noch immer genug. Dies sein kaum versteckter Heiratswunsch. Auslöser ist vermutlich die Heiratsankündigung des Bruders. Eingedenk der sonst schlimmen Nachrichten von daheim wünsche er sich inzwischen gar, wenn sie alle mit sammen nach Amerika gereist währen. Unsere Familie könnten wir allein von unser[er] beiden Händeverdienst erhalten. Damit wolle er nicht etwa sagen, dass in der Kolonie alles gut sei, sonst würd ich ja alle meine vorhergeschriebenen Aussagen Dementiren. Hir bei allem Elende ist man doch nicht so thirannenmässiger Arbeit verpflichtet wie da drüben.

Das klingt nun doch um einiges positiver als die Äusserungen vom Sommer 1890. Inzwischen hat er offenbar auch das Reisegeld nahezu beisammen. Er meldet, er werde kommen; es hänge nur noch von der nächsten Ernte ab. Ein Jahr danach (Juli 94) muss er hingegen einräumen, dass es mit der Reise noch immer nicht sein kann. Diesmal gehört neben der Mutter und dem Bruder auch die Schwägerin zu den Adressaten. Seit einer Woche weiss er, dass der Bruder geheiratet hat. In halb traurigem, halb missmutigen Nachsinnen über das Alleinsein sei er während eines Abendspaziergangs auf die Post die Zeitung (die er anscheinend abonniert hat) holen gegangen. Freudenentzückt habe er vom Posthalter gehört: «Il y a une letre pour vous Msr. [!] Theophil.» Allerdings waren ihm die Schriftzüge fremd. Im Brief sei auch fon einem Schwägerinchen die Rede. Er hat befürchtet, die Mutter könnte verstorben sein. Deshalb habe er vorerst alles schnell überflogen. Dass auch die Mutter im Brief zu Wort kommt, freut ihn deshalb besonders. Den Bruder beglückwünscht er für seine Ehehälfte, die Schwägerin schliesst er ins Herz, aber er versäumt nicht, den Bruder zu ermahnen: [N]ur die Mutter vergesse mir nicht.

Unterbäch. Im Jahr 2071 sind es 50 Jahre, seit in der Schweiz die Frauen das Stimm- und Wahlrecht erhalten haben. Zu diesem Anlass erinnert der «Tages Anzeiger» vom 20. Januar 2021 daran, dass sich der Gemeinderat von Unterbäch im Jahre 1957 der offiziellen Schweiz widersetzte, indem er auch Frauen über eine nationale Vorlage abstimmen liess. Katharina Zenhäusern, die Frau des Gemeindepräsidenten, legte als erste Schweizerin am 3. März einen Stimmzettel in die Urne, und 32 Unterbächerinnen (von insgesamt 84 potenziell stimmberechtigten Frauen im Dorf) taten es ebenso. (Initianten waren neben dem Gemeindepräsident das Ehepaar Iris und Peter von Roten, sie war Journalistin und Juristin, er Nationalrat und Jurist.) Der Anstand und der gute Ton verlangten es, dass wir Männer uns nicht als allmächtige Vormünder benehmen, sondern Recht und Pflichten unserer Frauen in Einklang bringen. So die Begründung des Gemeinderates. Journalisten und Fotografen besuchten damals das Dorf; selbst die «New York Times berichtete. (Die Stimmzettel der Frauen wurden separat gesammelt und später annulliert.)

Katharina Zenhäusern, 1919 – 2014. Quelle: Wikipedia-Eintrag zu Unterbäch

Das Antwortschreiben lässt erkennen, dass der frisch Verehelichte die Absicht äussert, Unterbäch ebenfalls in Richtung Argentinien zu verlassen. Theophil winkt ab: Der Gedanke nach Amerika zu gehen schlage einsten aus dem Sinn. Zurzeit sei es nicht ratsam, ihm zu folgen, denn – und das sei der alleinige Punkt – der Goldwechsel sei in letzter Zeit auf das Höchste gestiegen, d.h. es herrscht Papiergeld-Inflation. Wer Gold habe, profitiere, denn Land, Getreide und Alles werde mit Papier bezahlt. Er rät, die weitere Entwicklung abzuwarten. Wo es schliesslich besser sei, dort könne man sich dann hinwenden. Mit der Zeit kans ja wider in einem von beiden Ländern Heimat oder Amerika besser gehen. Auslöser für die Wirtschaftskrise ist der stockende Getreideexport. Die Agrarpreise sind tief, so dass die Bauern selbst bei guter Ernte wenig Einkünfte haben. Sein alter Meister schuldet ihm denn auch noch beträchtliche 200 Pesos. Er kans ja nicht aus den Steinen schlagen, setzt er erklärend hinzu. Auch politisch ist es zu dieser Zeit unruhig; es gebe wieder Revolutionsgerüchte. Jederzeit könne es wieder losbrechen. Aber diesmal ohne ihn. Er wolle nicht noch einmal sein Leben aufs Spiel setzen für die Amerikanischen Sesselkriege. Es geht diesmal anscheinend um argentinische Machtkämpfe, nicht mehr um «die Freiheit der Arbeiterklasse».

Übers Ganze gesehen seien die Walliser Siedler gesund u. zimlich zufrieden. Ausgenomen der Ferdinand, rütelt immer noch an Amerika, um es ins Niemalsgewesenwähre zu denken. Hier ist er doch jetzt. (Einmal mehr bemerkt man, mit wie viel sprachlicher Fantasie sich Theophil Werlen auszudrücken vermag.) Über sich persönlich schreibt er, er sei zufrieden wie immer. Die Hertzenswärme meiner Heimath u. den Meinigen sei jedoch noch um kein grad gesunken. Weiterhin steige die Sehnsucht, die Heimath u. die Theuersten meines irdischen Daseins zu sehen.

Mit dem Brief vom März 1895 endet die Korrespondenz, die vom Einzelauswanderer Theophil Werlen erhalten geblieben ist. Er ist die Antwort auf ein fünf Monate zurückliegendes Lebenszeichen aus Unterbäch. Vermutlich erreichte es ihn mitten in die Erntezeit. Er entschuldigt sich für die unüblich späte Antwort. Arbeitsangelegenheiten hätten ihn vom Schreiben abgehalten. Mit Bedauern musste er zur Kenntnis nehmen, dass es im Wallis weiterhin wenig Grund zur Zuversicht gibt. Seine Angehörigen klagen einmal mehr über unerfreuliche Naturereignisse. Darum denkt der Bruder weiterhin ans Auswandern. Darauf verweist Theophils Reaktion: Selbst hier im sogenanten Paradiese, haben auch alle Rosen viele, viele Dornen. Er begründet seine Skepsis damit, dass man täglich schmerzlich zur Kenntnis nehmen müsse, wie Recht und Gerechtigkeit den Einwanderern gegenüber verachtet würden. Und weil dem Staatsgeldsäckel immer noch mehr Schulden eingeschoben würden, führe das zu ständig steigenden Steuern. Weiteres will er darüber nicht äussern, beendet die Argumentation aber mit der sarkastischen Bemerkung, es seien ja alle Zeitungen der Welt foll von dem herrlichen Argentinien u. seinen paradiesischen Angenehmlichkeiten. Tatsächlich erlebt Argentinien von 1880 bis zur Weltwirtschaftskrise einen ökonomischen Aufschwung. Das Land gehört zu dieser Zeit zu den weltweit reichsten Ländern, während die Schweiz von einer sozioökonomischen Spitzenposition noch weit entfernt ist. Insbesondere der Kanton Wallis ist diesbezüglich rückständig, obwohl gerade hier wegen der englischen Gäste allmählich touristische Infrastrukturen, insbesondere Hotels entstehen.

Werlen berichtet erstmals genauer über seine Arbeit als Erntehelfer. Wenn Getreide geschnitten wird, verlässt er die Schuhmacherwerkstatt wie eh und je. Diesmal sei er ziemlich erwarmt, habe er doch als Heitzer vom Tämpfer der Treschmaschine mehr als einen Monat lang gearbeitet. Da war Sonnen- u. Tämpferhitze mit welchen ich kämpfte. Gegenwärtig habe ich Augenschmertzen, ist so ein Uebergang. Bin zufrieden, habe immer Arbeit um etwas zu verdienen, fom Essen nicht zu reden. Was man sich unter einem Dreschmaschinen-Dämpfer vorzustellen hat, blieb seiner Familie wahrscheinlich ebenso unklar wie uns Leser*innen heute. Aber dass die argentinische Landwirtschaft vor der Jahrhundertwende schon in einem Masse mechanisiert ist, wie es die schweizerische auch Jahrzehnte später noch nicht sein wird, das dürfte in der Walliser Familie für Erstaunen gesorgt haben. Aber seine Ausführungen lassen kaum den Schluss zu, inzwischen würden auch die Walliser Migranten im grossen Stil Acker- resp. Getreidebau betreiben. Erntehelfer wie Werlen arbeiten hauptsächlich in den umliegenden Kolonien. Dort wird nicht Viehzucht betrieben, sondern Getreide, v.a. Weizen und Mais angebaut (was den Absichten entsprach, die Argentinien mit der Förderung der europäischen Einwanderung verfolgte).

Auch wenn Theophil Werlen nach dem ersten Brief ausser übers Heimweh kaum mehr klagt, so hält er im März 1895 doch explizit fest: Aber fröhlich, so natürlich fröhlich, wie in der Heimath, war ich noch keine Stunde. Vieles bleibt ihm fremd. Alles lebt so in den Tag hinein, stellt er fest. Dank seiner Kommunikationsfähigkeit dürfte er zwar genügend Sozialkontakte haben, da ihm jedoch das familiäre Umfeld bzw. emotionale Nähe zu den Angehörigen fehlt, fühlt er sich trotzdem einsam. Empathie für die Angehörigen kann er nur schriftlich ausdrücken. Der melancholische Grundton in all seine Briefen überrascht darum nicht. Werlens emotionale Defizite kommen auch in den weitausholenden Grussbotschaften am Ende der Briefe zum Ausdruck. Wie hier beim letzten:

Sollte Gottes Wille nicht sein, uns zeitlich wiederzusehen, so bitte ich noch einmal um Verzeihung aller Unbeliebigkeiten an Euch, fon mir in der Vergangenheit. Um versöhnt miteinander aus dem Irdischen geschieden uns im Jenseitz die Hände zu reichen.

Liebe, innigstgeliebte Mutter! Gotte erhalte mich Euch, im Frieden u. Gedult.

Auf Wiedersehen. Euer Theophil.

Grüsse an alle wie immer.

Damit endet die Korrespondenz des Theophil Werlen aus Unterbäch. Wie seine Geschichte weiterging, wissen wir nicht.


  1. Theophil Werlens erster Brief ist nicht erhalten. ↩︎

  2. Daraus lässt sich nicht ableiten, er sei erst als Migrant zum Alkoholiker geworden; Alkoholismus kannte man im Wallis genauso. ↩︎

  3. Im Walliser Dialekt bedeutet roben, etwas an einen anderen Ort befördern. Hier: Der Wind trägt das Haus mit sich fort. ↩︎