Ich bin Argentinier und Argentinien ist mein Vatterland, aber wenn es einmal an das Sterben kommt, ...

Zur Geschichte des Kräuterdoktors Christian Tscherry und seines Verwalters Julio Falcini

Von Christian Tscherry, geboren 1848 in der Walliser Gemeinde Gampel und am 3. Dezember 1925 auch dort verstorben, ist ausser dem folgenden kurzen Text auf der Rückseite einer Fotografie kein schriftliches Dokument erhalten:

Das Foto hat Tscherry kurz nach dem Dorfbrand von Gampel im Jahre 1890 seinen Verwandten geschickt. Hinten handschriftlich: Christian Tscherry dessen Bild aus Gampel, hatte in Raphaela Argentinien, im Walliserbot gelesen das, dass Dorf Gampel am Abend des 15. März 1890 fast vollständig niedergebrant wurde. Aufnahme in seinem Mitleit nach dem Lesen. Raphaela Argentinien den 20. Mai 1890.

Weil es andere Quellen gibt, lässt sich trotzdem einiges über das Leben dieses Mannes erzählen. Ich nutze 16 Briefe seines Verwalters Julio Falcini aus Nuevo Torino (Provinz Santa Fe), den Brief eines Walliser Emigranten, das Interview von Klaus Anderegg aus dem Jahr 1980 mit der damals 72-jährigen Tochter Rosina Eberhard-Tscherry sowie drei kurze Zeitungsartikel aus dem «Briger Anzeiger» und dem «Walliser Boten» aus den Jahren 1903 und 1904. Derjenige aus dem «Walliser Boten» vom 21. Juni 1904 sei hier wiedergegeben:

Unter der der Schlagzeile «Walliser in der Fremde» ist der fast gleichlautende Text einen Tag später auch im «Briger Anzeiger» erschienen. Christian Tscherry dürfte also zu Beginn der 1880er-Jahre ausgewandert sein. Seiner Tochter gemäss habe er früh geheiratet, sei aber bald Witwer geworden, da seine Frau bei der Geburt des ersten Kindes starb. (Über das Schicksal des Kindes ist nichts bekannt. Die Tochter Rosina kam erst ein Vierteljahrhundert später zur Welt.) Daraufhin verkaufte er einen Teil seiner Güter und wanderte aus. In der Provinz Santa Fe kaufte er «Liegenschaften» und nahm auf einer davon Wohnsitz. Allerdings verdiente er den Lebensunterhalt nicht als Landwirt; vielmehr zog er als Kräuterdoktor von Farm zu Farm. Schon sein Vater habe «eine gute Hand» für Kräuter» gehabt, berichtete die Tochter. Von ihrem Vater erfuhr sie auch, er sei auf einem grossen schwarzen Pferd unterwegs gewesen.

Dem obigen Zeitungstext könnte man entnehmen, dass Christian Tscherry im Juni 1904 zum ersten Mal ins Wallis zurückreiste. Tatsächlich war er bereits 1890 (und nicht zum ersten Mal) dort zu Besuch. Nämlich kurz nachdem er die oben abgebildete Fotografie mit der «Mitleit»-Botschaft nach Gampel geschickt hatte. Gemäss seiner Tochter lebte sein Vater zu dieser Zeit noch. Ausserdem habe er den Kontakt zur Heimatgemeinde nie verloren. Auch 1903 hielt er sich für kurze Zeit im Wallis auf. Das belegt eine Ankündigung im «Briger Anzeiger» vom 15. Oktober:

Die Annonce erinnert an Lorenz Bodenmann, der zur erste Auswanderergruppe gehört hatte, die im Juli 1857 Argentinien erreichte, und der anschliessend einige Male in Wallis zurückkehrte, um weitere Auswanderergruppen nach Santa Fe zu begleiten. (Vgl. Kap. «Argentinien als Zielland»). Ein halbes Jahrhundert später war die Situation für Auswanderer in den Kolonien westlich von Santa Fe ungleich anders. Der landwirtschaftliche Boden war verteilt; Neuzuwanderer mussten sich in der Regel als Teilpächter oder Landarbeiter durchschlagen. Dem einen oder anderen mag es gelungen sein, mit einem eigenen Gewerbe Fuss zu fassen. Umso überraschender ist darum der offensichtliche Wohlstand von Christian Tscherry. Er muss als bereits begüterter Mann nach Argentinien gekommen sein, sonst hätte er dort weder «Liegenschaften» kaufen noch später regelmässig ins Wallis reisen können. Solches ist mit Ausnahme von Bodenmann nur von den frühen Walliser Migranten bekannt, die als Kolonisten erfolgreich waren. (Bemerkenswert in der Anzeige ist im Übrigen, dass es auch von ihm heisst, er wandere aus. – Das hatte er ja längst getan. – Vermutlich nahm man es bei der Formulierung nicht so genau.)

Was seinen Landbesitz angeht, so setzte er dafür den bereits genannten Julio Falcini als Verwalter ein. Es handelte sich zweifellos nicht um eine der Konzessionen, wie sie den ersten Kolonisten zugeteilt worden waren, d.h. nicht um ein zusammenhängendes Stück Boden, sondern um verschiedene Güter. Solche besass er in Nuevo Torino, in Rafaela und in San Jerónimo Norte.

Dass er den Lebensunterhalt hauptsächlich als Kräuterdoktor bestritt, ist wenig wahrscheinlich. Seine Tochter erzählte, er sei auch als Liegenschaftsvermittler tätig gewesen. Die Kräuterdoktor-Identität dürfte ihm dabei von Nutzen gewesen sein. Da er als eine Art Gesundheitsexperte das Vertrauen der Kolonisten genoss, wusste er auch über deren wirtschaftliche Situation Bescheid. Er war informiert, wer Weide- und Ackerflächen verkaufen oder kaufen wollte, und konnte so auch bei Handänderungen vermittelnd helfen. Und beim einen oder anderen Angebot griff er wohl auch selber zu. Dass das seinem Ruf nicht schadete, sondern ihn beförderte, belegt der abgedruckte Zeitungsartikel.

Die Einsamkeit der Ehefrau

Man kann davon ausgehen, dass Christian Tscherry bis zur Jahrhundertwende sein Anfangsvermögen vergrössert hatte. (Aus den Briefen von Julio Falcini werden wir in der Folge mehr erfahren.) Was den Zivilstand betrifft, so heiratete er – vermutlich bei seinem ersten Besuch im Wallis – in den 1880ern erneut. Und zwar mit einer Frau Zengaffinen aus Gampel. Gemeinsam reisten sie zurück nach Rafaela. Eine glückliche Zeit hatte seine Ehefrau dort jedoch nicht. Sie litt unter gesundheitlichen Problemen, ziemlich sicher auch deshalb, weil sie auf der Farm häufig allein war. Ihr Mann war wiederum als Kräuterdoktor unterwegs und kam nicht jeden Abend zurück. In ihrer Einsamkeit begann sie zu trinken. Tscherry unterhielt auch Kontakte zu in der Nähe lebenden indigenen Gruppen (was bei seinem Interesse an pflanzlichen Heilmitteln nicht erstaunt). Auch sie wurde mit diesen Leuten bekannt, ja, sie begab sich während seiner Abwesenheit regelmässig zu ihren Wohnstätten. Wenn er zurückkam und sie nicht antraf, fand er sie, wie die Tochter erzählte, «bei den Indianern am Lagerfeuer». Schliesslich entschloss er sich, mit ihr ins Wallis zurückzukehren oder – besser gesagt – sie dorthin zurückzubringen. Auch kurz vor der Abreise wusste er nicht, wo sie war, und fand sie schliesslich bei den Indigenen. Nach ihrer eigenen Aussage fühlte sich dort wohl und wäre ohne weiteres «bei denen» geblieben. Nach kurzem Aufenthalt im Wallis reiste Tscherry ohne sie nach Argentinien zurück. Ein Jahr später starb sie.

Aus dem Jahr 1904 stammt ein Leumundszeugnis von Christian Tscherry (original in spanischer Sprache; hier in der Übersetzung):

Vor mir, dem unterzeichneten Richter der Kolonie Felicia, Provinz Santa Fe, erschien am 1ten März 1904, Christian Tscherry, von Gampel, Wallis, Schweiz, jetzt hier wohnhaft, welcher eine Erklärung über seinen Besitz, Verbleib u. Verhalten verlangt, welchem Begehren ich in meiner Eigenschaft willfahre, erklärend, daß besagter Tscherrÿ hier u. in der Nachbarkolonie Neu Turin, Grundeigentum u. Kapitalien besitzt, dass er bereits 20 Jahre im Lande weilt u. sich als guter Bürger und Ehrenmann, meines Wissens so wie der Nachbarschaft, stets aufgeführt hat u. als solcher für jederzeit aufgenommen wird u. folglich dem Schutz jeder Behörde, wo er hinkommen mag, empfohlen werden kann.

Jakob Senn Richter.

Korrespondenz mit Julio Falcini

Die Tochter erzählte, dass er nach der Jahrhundertwende bei einem weiteren Besuch in Gampel ihre spätere Mutter, damals Witwe, kennenlernte. Die beiden heirateten 1907. Im Jahr darauf kam Rosina zur Welt. Mein Vater war gerade 60 und die Mutter 421. Christian Tscherry wollte nach Argentinien zurückkehren. Tatsächlich blieb er mit Frau und Tochter jedoch in Gampel. Das war der Beginn der Korrespondenz zwischen ihm und dem Verwalter Julio Falcini. Aus dessen Briefen, obwohl inhaltlich zumeist dürftig, erfährt man sowohl über die Geschichte des Walliser Aus- und Rückwanderers, als auch über die wirtschaftlichen sowie klimatischen Bedingungen der Kolonisten einiges.

Leider schreibt2 Falcini, von Ausnahmen abgesehen, wenig über sich selber. Der italienischstämmige Siedler schreibt in deutscher Sprache – zwar einfach und fehlerhaft, aber durchaus nicht unbeholfener als manche Walliser Migranten.

In den meist kurzen, sachlich gehaltenen Texten geht es immer wieder und dieselben Themen, nämlich um:

  • Einkünfte aus Schuldscheinen sowie Probleme mit Schuldscheinen und Schuldnern

  • Geldüberweisungen ins Wallis

  • den Wunsch, Tscherry möge bald wieder nach Argentinien kommen

  • klimatische Bedingungen und deren Auswirkungen auf die Ernten und die Viehweiden.

Bereits diese Aufzählung ist informativ, was die Vermögenswerte des Rückwanderers betrifft. Christian Tscherry besitzt nicht nur Land in vermutlich drei Kolonien, sondern ist auch Gläubiger von mindestens einem Dutzend Siedler. Er leiht ihnen Geld oder besitzt auf deren Grundbesitz Hypotheken. Auch sein Verwalter wird zumindest in einem Fall vom Kolonisten Joseph Imstepf angefragt, ob er ihm aus Tscherrys Finanzvermögen ein Darlehen gewähre. Imstepf will aber nicht sechs, sondern nur vier Prozent Zins bezahlen – mit der Begründung, auch die Bank bezahle diesen Zins. Falcini fragt im Wallis nach, wie viel Zins er verlangen müsse. Interessant ist, wie er begründet, dass er Geld seines Auftraggebers verleihen möchte. Christian Tscherry selber habe sich dahingehend geäussert, lieber leihe er Geld an Kolonisten, als es auf die Bank zu geben. Und er fügt hinzu, Imstepf sei ein guter Kolonist; ihm könne man das Geld «schon anvertrauen». Der Mann brauche dieses im Übrigen nur, weil er Land gekauft habe, das er nun bezahlen wolle. – Ob Falcini aus Gampel Antwort bekommt, weiss ich nicht. (Er beklagt sich öfters darüber, dass Tscherry die Briefe zu lange nicht beantworte, und wenn er es schliesslich tue, vergesse er oft, auf die gestellten Fragen einzugehen.) Drei Monate später, im Brief vom 12. März 1910, schreibt er jedenfalls, er habe Imstepf 6'600 Taler zu sechs Prozent Zins geliehen.3

Unordnung in den Papieren – miserable Ernten

Christian Tscherry hat Argentinien offensichtlich nicht in der Absicht verlassen, fortan im Wallis zu leben. Darum ordnete er seine Papiere wenig oder gar nicht. So weiss sein Verwalter oftmals nicht, ob ein Schuldschein getilgt wurde oder ob ihn Tscherry ins Wallis mitgenommen hat. Entsprechend bittet er ihn öfters, er solle in seinen Unterlagen nach einem bestimmten Schuldschein suchen und ihm diesen zustellen oder bestätigen, dass das Geld zurückbezahlt worden sei. Falcini gerät nämlich schon mal in die Situation, dass ihm das notwendige Dokument fehlt, wenn er bei einem Schuldner oder bei einer Schuldnerin den fälligen Zins einfordert. So bei Frau Amweg, vermutlich der Witwe eines Rudolf Amweg. Da der Schuldschein nicht auffindbar sei, könne er das Geld nicht einziehen. Dies schreibt Falcini im Brief vom 14. März 1911 und wiederholt es im Januar 1913. Im September dann thematisiert er die Sache ein weiteres Mal. Dieser Brief sei als Beispieltext hier ungekürzt wiedergegeben:

Nuevo Torino Septembre 30. 1913.

Lieber Freund Cristian Tscherri

Schon lange habe ich von dir keine nachricht mehr erhalten / ich weiß nicht ob du nocht lebt oder tot bist / ich hab dir gelt geschikt / ich weiß nicht / ob tu es erhalten hast oder nicht. Wir sint gesunt waß ich auch von ihnen hoffe, wen nicht ein unglück darin felt / so haben wir dises Jahr eine Schöne Ernte zu erwarten. aber wenn daß weter so fort fart / so ist spete frost zu erwarten / den bis Jetz haben wir keinen wintter gehabt u. es scheint späte fröste zu geben. Neues weiß ich dir nicht zu schreiben / den ich möchte Zuerst von dir eine nachricht erhalten / wen du disses Jahr gelt brauchst / so schreibe mir gleich nach empfang disses brifes, den Josepf Imstepf hat mich gefragt / ob er diesses Jahr bezalen müsse oder nicht.

Mit der Frau Amweg ist nicht vill zu machen den waßs mir scheint / hat di keine lust zubezahlen / es wäre gut wen du ihr einmal selbst schreiben thätest / den an / gelt felt es ihr nicht / den wie man hört / stehen die Jetz gut. Lieber Cristian / Schreibe mir einmal wie es dir geht ob du auch gesud bist mit deiner Familie oder nicht / aber ich glaube / du verweilst dich mit deinen Töchterchen / hast wohl keine Zeit mir zu schreiben. Unser alter richter Santioga [!] Senn von Felisia ist im Sinarola in Itallia gestorben. Seine reste werden durch verlangen seiner verwanten nach Felisia zurück geschikt um ihn in Felisia zubeertigen. Seine Frau befindet sich auch in Italia / Arnolt Rütiman ist auch in der Schweiz gestorben / Manero u. Pautasso sind auch in Italien / Manero hat Frau u. Kinder verlasen / für 10 Jahre wird er nicht mehr zurück komen / die Kinder müssen ihm 1500 Järlich Schicken damit kan er wohl Leben.

Lieber Cristian wir sind alle gesund waß ich auch von dir u. Deiner familie hoffe.

Mit den härzlichsten Grüßen verbleibe ich für immer euer Treuster Freund.

Julio Falschini [!]

Falcini schreibt zwar orthografisch und grammatisch abenteuerlich, aber gleichwohl mit einer bemerkenswerten Sprachkompetenz. (Deutsch ist kaum seine Muttersprache.) Was Frau Amweg betrifft, so lässt er nicht locker; er ist überzeugt ist, dass sie das geliehene Geld nicht zurückbezahlt hat. Die Bemerkungen, dass sie «keine lust» dazu habe, wirkt unfreiwillig komisch. Was ihn ärgert, ist der Umstand, dass die Schuldnerin die Zinszahlung nicht finanzieller Not wegen verweigert. Im Übrigen kommt er Kolonisten durchaus entgegen, wenn sie wegen schlechter oder ausfallender Ernte finanziell in Not geraten. Was allerdings Joseph Imstepfs Anfrage betrifft so nennt Falcini dessen Gründe gegenüber Tscherry nicht. Er scheint dem Mann mehr gewogen zu sein als Frau Amweg. An einer (erwarteten) schlechten Ernte dürfte es nicht liegen, denn für einmal stehen die Vorzeichen gut. (Wie man dann zwei Monate später erfährt, war der Optimismus verfrüht. Sturm, Regen und Hagel haben Teile der Ernte vernichtet.) In den acht Jahren Berichterstattung fehlen übrigens einzig 1908, 1912 und 1914 Berichte über Ernteausfälle, in den anderen Jahren beeinträchtigen Trocken- oder Regenperioden, einmal auch eine Heuschreckenplage die Erträge oder verhindern sie ganz. 1910 und 1911 beispielsweise ist von monatelanger Trockenheit die Rede, vier Jahre danach von Stürmen und von Regenfällen, die alles unter Wasser setzen und das Getreide verfaulen lassen. In der hier referierten Zeitspanne sind Missernten die Regel und gute Ernten die Ausnahme. Mindestens jedes zweite Jahr sind der Getreide- und der Flachsanbau betroffen, aber auch fürs Vieh wird das Futter oftmals knapp. Er selber habe deswegen 70 Stück Vieh verloren, schreibt er im Dezember 1910. Und auch im Jahr darauf heisst es, die Viehpreise seien deswegen «am Boden». Man habe die Brunnen tiefer gegraben, jedoch mit mässigem Erfolg.

Diese Daten vor Augen, fragt man sich, wie die Kolonisten je auf einen grünen Zweig kommen konnten? Und doch, es scheint möglich gewesen zu sein. Im früheren Brief (März 1910) schrieb Falcini, man könne mehr Geld machen in Amerika als früher; er fügte aber relativierend hinzu, dafür sei alles zehnmal teurer. Es scheint, dass die Kolonisten in den besseren Erntejahren so viel einnehmen, dass sie so Missernte-Jahre finanziell überbrücken können. Dafür sprechen auch die Zins- und Ernteeinnahmen, die Falcini in der Regel jährlich einmal ins Wallis schickt. Es sind Summen zwischen 1'500 und 3'500 Franken; einmal sogar 16'218 Franken. Wie viel davon Zinseinnahmen und wie viel Kapitalrückzahlungen oder Erlöse aus Landverkäufen sind, erfährt man nicht.4 Von 1908 bis 1915 überweist er insgesamt 25'000 Franken ins Wallis. (Nicht eingerechnet die zwei Jahre, in denen er die Höhe der überwiesenen Beträge nicht nennt.) Jedenfalls kann Christian Tscherry in Gampel mit diesem Geld den Lebensunterhalt der Familie ohne Probleme bestreiten. (Im Wallis bewegt sich zu dieser Zeit der monatliche Verdienst eines Arbeiters um die 50 Franken.5) Es scheint auch, dass Falcini jeweils Order bekommt, ob und wie viel Geld er transferieren soll. Einmal heisst es, Tscherry verlange kein Geld, ein anderes Mal, er erwarte eine Geldüberweisung.

Wie man liest, ist Tscherry nicht der Einzige, der in die Heimat zurückkehrt und dort den Lebensunterhalt aus den argentinischen Erträgen bestreitet. Auch der italienische Emigrant Manero tat dasselbe. Warum er seine Frau in Argentinien zurücklässt und die kommenden zehn Jahre allein in Italien leben will, und zwar mit dem Geld, das ihm von den Kindern aus Argentinien überwiesen wird, darüber gibt der Text keine Auskunft. Seltsam bleibt es allemal. Kontrastierend dazu die Erzählung über den nach Italien zurückgekehrte und dort verstorbene Richter Santiago Senn. (Wahrscheinlich ein Migrant mit Schweizer Wurzeln, der mit einer Italienerin verheiratet war.) Seine sterblichen Überreste sollen nach Felicia – eine Kolonie 10 km nördlich von Nuevo Torino – überführt werden. Das erklärt sich vermutlich damit, dass die engsten Verwandten des Ehepaars Senn in Argentinien leben und auch die Witwe dorthin zurückkehrt.

Wer in seiner Heimat zu essen und zu trinken hat, ...

Auf die Frage, warum Christian Tscherry mit seiner dritten Ehefrau im Wallis bleibt, obwohl er vom Verwalter regelmässig aufgefordert wird, wieder nach Argentinien zu kommen, gibt der Brief vom März 1910 eine Teilantwort. Falcini schreibt – persönlicher als üblich – er habe sich «sehr gefreut», auch einige Zeilen von Frau Tscherry bekommen zu haben. Sie hat darüber Auskunft gegeben, warum sie mit ihrem Mann und der Tochter im Wallis bleiben will. Sinngemäss lautet ihre Begründung: Wer in seiner Heimat zu essen und zu trinken habe, solle in Europa bleiben.

Im Interview mit Klaus Anderegg sagte Rosina Eberhard-Tscherry, die Mutter habe nicht «nach Amerika zurückgehen» wollen. Sie hatte Angst, allein auf einer Farm zu leben und nicht in einem Dorf. Und wenn Vater und Mutter hinübergegangen wären, wäre ihr nichts anderes übrig geblieben, als auf einer Farm zu leben, denn er hatte ja Land. (...) Und dann, er als Kräuterdoktor bald hier bald dort; das passte Mutter irgendwie nicht, und so ist er hiergeblieben.

Was Frau Tscherry im Brief an Falcini ausführt, hält dieser für «ganz vernünftig». Er meint, an ihrer Stelle würde er sich genauso ausdrücken. Tatsächlich sei das jetzige «Amerika» nicht mehr das frühere. Besondere Kritik gilt der Regierung; sie verlange von den Kolonisten immer höhere Abgaben. Dem folgt der Satz:

Ich bin Argentinier und Argentinien ist mein Vatterland, aber wenn es einmal an das Sterben komt, würde ich 10mal lieber in Europa sterben weder in Amerika.

Und er fährt fort, liebend gerne würde er die Ehefrau seines Freundes kennen lernen und ihr freundlich die Hände drücken. Wenn er gesund bleibe, hoffe er, das Vaterland seiner Eltern auch einmal zu sehen. (Was auch heisst, dass er der Sohn italienischer Migranten ist). Gegenwärtig (1910) plagen ihn und seine Frau aber grössere Sorgen. Im Brief vom Dezember, wo u.a. vom Verlust von 70 Stück Vieh die Rede ist, meint er, das wäre alles nicht so schlimm, wenn seine Familie gesund wäre. In den vergangenen zwei Jahren hätten sie schon mit dem einen oder andern zu «toktern» gehabt; besonders seine Frau wolle nicht mehr gesund werden. So viel Geld habe er deswegen ausgegeben, genützt habe es nichts. Und jetzt sei auch noch der «Tochterman Luis Ambort» gestorben, so dass sie die Witwe mit drei Kindern nun wieder in ihr Haus aufgenommen hätten. Sie habe nichts, denn die «alten» (wohl die Eltern des Verstorbenen) hätten für die Erziehung der Kinder nichts geben wollen. (Das ist eine Kritik an der Walliser Emigrantenfamilie!)

Drei Jahre später antwortet er auf Tscherrys Ermunterung, doch einmal nach Europa zu kommen, eine solche Reise könne er erst dann ins Auge fassen, wenn ihre Kinder grösser seien. Dass er und seine Frau noch kleine Kinder oder solche im Jugendalter haben, erstaunt. Umso mehr, als die verwitwete Tochter mit den Kindern ins Elternhaus zurückgekehrt ist. Im gleichen Brief berichtet er zudem, dass die erwachsenen Kinder alle verheiratet seien. Sein Sohn Julio – auf den er besondere Stücke hält – besitze in Maria Juana (60 km südwestlich von Nuevo Torino) eine Schlachterei. Verheiratet sei er mit einer Italienerin aus Eustolia6. Ein weiterer Sohn, Emilio, arbeite im gleichen Betrieb. Wenn er sich weiter so entwickle, werde auch aus ihm «ein guter Handelsmann».

Denkbar ist, dass mit den Kindern, die zuerst grösser werden müssen, bevor eine Europareise möglich ist, die Enkelkinder, die Kinder der verwitweten Tochter gemeint sind.

Nachwanderer haben’s schwer

Um die Jahrhundertwende und danach hatten manche Migranten, die erst eine Generation nach den Ersteinwanderern nach Argentinien gekommen waren, ein zwiespältiges Verhältnis zu ihrem neuen Lebensraum. Wer es sich leisten konnte, besuchte zumindest einmal das europäische Herkunftsland. Manche entschlossen sich zur Rückwanderung, sei es, weil die Sehnsucht nach der alten Heimat zu gross war, sei es, dass sie nicht erfolgreich waren. Individuelle Beweggründe spielten dabei eine Hauptrolle. Die Geschichte der Familie des Johann Christian Theler steht als eigene Erzählung ebenfalls online. Sie fällt aus verschiedenen Gründen aus dem Rahmen, unter anderem weil Theler zweimal auswanderte und zweimal zurückwanderte. Die meisten seiner zahlreichen Nachkommen leben heute in Argentinien, einige, unter ihnen wirtschaftlich überaus Erfolgreiche, in der Schweiz. – Von einem Hin- und Her-Wanderer schreibt auch Julius Falcini. Im Dezember 1913 erzählt er, er habe sich auch mit Vicente Tschieder getroffen. Dieser kehre im April wieder zurück, denn es gefalle ihm im Wallis besser als in Argentinien. Auch seiner Frau gefalle es in Brig besser als in San Jerónimo. Von ihm berichte ich ausführlich im Kapitel über San Jerónimo Norte – im Kontext der Rosalia-Heimen-Geschichte. Vicente Tschieder wurde 1870 in Brig geboren, kam als 3-Jähriger nach Argentinien und kehrte als Erwachsener um 1906 mit seiner Frau nach Brig zurück. Hier lebte das Ehepaar 18 Jahre. In dieser Zeit arbeitete Tschieder in einer Schiffsreise-Agentur. Falcini zufolge muss er sich 1913 (vermutlich während kurzer Zeit) in der Provinz Santa Fe befunden haben. Die endgültige Rückkehr nach Argentinien erfolgte 1924. In San Jerónimo führte er ein kleines Geschäft, wo er besonders Gesundheitspräparate verkaufte. Die meisten davon bezog er aus einer Briger Apotheke. Zudem vermittelte er den Kolonisten Abonnemente von Walliser Zeitungen und hatte auch den Schweizer Jahreskalender im Angebot. Bei Erbangelegenheiten führte er oftmals den Briefverkehr mit den Waisenämtern der Herkunftsgemeinden. In den meisten Ämtern kannte man ihn persönlich, und er konnte sich schriftlich einigermassen auf Deutsch ausdrücken. (Von ihm ist ein umfangreiches Briefkonvolut erhalten, aber da es darin zumeist um Bestellungen, Zahlungshinweise und dgl. geht, ist es inhaltlich wenig ergiebig.)

Über den Bodenbesitz von Christian Tscherry erfährt man aus den Briefen nicht viel. Man bekommt insgesamt den Eindruck, dass der Rückkehrer kaum noch Interesse dafür aufbrachte, auch wenn sein Verwalter ihn öfters mahnte, sich darum zu kümmern. Ein Landstück von unbekannter Grösse in San Jerónimo wurde zum Beispiel einige Male Thema, da es Unklarheiten bezüglich der Besitzverhältnisse gab. Aus Gampel kam der Rat, sich nicht weiter darum zu kümmern, da die das Land betreffenden Papiere wertlos seien. Die diversen diesbezüglichen Briefpassagen ergeben kein klares Bild. Man erfährt, dass Falcini während einiger Jahren Steuer für das Land bezahlte, und einmal, dass dort eine Ernte oder Teilernte einzuziehen sei, dafür benötige er Anweisungen aus dem Wallis. Schliesslich liest man noch, der Staat habe den betreffenden Boden als «Comunal»-Land an sich genommen und versteigern lassen.

Ob Tscherry die Güter verpachtete oder darauf Landarbeiter beschäftigte, die für ihn den Boden bestellen, lässt sich den Quellen nicht entnehmen. Am wahrscheinlichsten ist, dass einzelne Pächter dem Landbesitzer statt Zins einen Teil der Ernte ablieferten. Das wäre insofern sinnvoll gewesen, als es immer wieder zu massiven Ernteausfällen kam. Man kann davon ausgehen, dass Tscherrys Besitz vom Verwalter nach und nach verkauft wurde. Dass sich die Tochter im Interview in dieser Richtung äusserte, wurde erwähnt.

Weil er bei unklaren Besitzverhältnissen selten genaue Anweisungen aus Gampel erhielt, machte Falcini schon mal seinem Unmut Luft. So im Dezember 1909, als eine Gruppe nach einer Reise ins Wallis nach Rafaela zurückkam und Tscherry nicht wie erwartet dabei war. Er reagierte verärgert, er schicke ihm einfach kein Geld mehr nach Europa. Wenn er das einige Jahre so halte, werde er bestimmt nach Argentinien kommen. (Zur erwähnten Reisegesellschaft gehörten übrigens auch einige Walliser, die nach Argentinien kamen, um dort Arbeit zu finden.)

Der Amerika-Mythos

Christian Tscherry wäre zweifellos gerne nach Argentinien zurückgekehrt. Er hatte immer Heimweh nach Amerika, erzählte die Tochter. Es war fast seine zweite Heimat. Da passte es ihm. Er war sicher auch gerne in Europa; deshalb ist er so viel zurückgekommen. Aber in Amerika hatte er seine Leute, seine Freunde, und er war dort gut aufgehoben. Er war beliebt und hatte einen guten Charakter. Er besass ein gutes Herz für Arme und Notleidende. Auch als er hier war, nahm er immer Arme – das gab es damals noch viel – zu sich an den Tisch. Ja, er war beliebt und nett. Deshalb hatte er auch viele Patenkinder in Steg, Gampel und Hohtenn. Die ging er dann immer besuchen in der Zeit, in der er hier war. Auch in Amerika hatte er Patenkinder, wie das ein Brief zeigt, der ihm geschrieben worden ist.

Weil er regelmässig von «Amerika» erzählte, entstand in seiner Umgebung so etwas wie ein Amerika-Mythos. Jedenfalls, so die Tochter, habe man «selbst Sympathie für Argentinien» bekommen. 1929 sei ihr Vetter Ludwig Walker «auf einen Besuch aus Amerika» gekommen. Und mit dem hätte ich nach Amerika gehen können. Damals war ich 21. Die Mutter liess mich nicht gehen, und ich selbst hatte schon auch Heimweh. Und so blieb ich hier. (Sie liess sich im Hotelfach ausbilden, sprach gut Französisch und Englisch und bekam das Angebot, in einem Hotel in England zu arbeiten. Zu dieser Zeit stand sie schon kurz vor der Heirat mit einem Eberhard aus Raron.)

Es gab weitere Gampjier, die gerne mit ihrem Vater nach Argentinien gegangen wären. So «ein Fräulein Lehner», aus deren Familie abwechslungsweise die Präsidenten des Dorfes stammten. Die Absicht von Adele Lehner sei es gewesen, in Paris billigen Schmuck zu kaufen «und damit mit den Indianern Geschäfte zu machen». Der Vater hätte ihr die Reise erlaubt, die Mutter jedoch wollte ihr einziges Kind nicht gehen lassen. Später heiratete die junge Frau einen Herrn Genier, Direktor der Lonza. Als beinahe 90-Jährige habe Adele Genier-Lehner erzählt, wie sie es bedaure, dass sie nicht nach Amerika ausgewandert sei.

Abschiessend veröffentliche ich den einzigen Brief, dessen Verfasser nicht Julio Falcini ist:

Felicia. Mai. 20/1908

Werther Freund Tscheri!

Es ist bald zwei Jahre her, das du fon hier fort bist u. habe noch nie einen Brief fon dir erhalten (Hast du uns fergessen?)

Es wundert mich sehr, wie es dir geht? Wie lebst auch in der alten Heimat? Hast du wieder eine Eva, oder bist noch Witman [Witwer]? Hier bei uns in dem gelobten Süd-Amerika geht es immer sosolala. Weizen hat es 300 bis 350 q hier herum gegeben, die Consesion. Lein 250 bis 300 q.

Der Weizen galt im Anfang des Treschens 7.50 bis 7.60 $. Meinen habe Ich ferkauft zu 6.80 $ den er hate sehr fiel Carbon.

Lein habe Ich sehr wenig gemacht 4-5 Ctr. fon 14 Cuader habe ihn zu frü gesäht u. ist mir dan der meiste erfroren. Die Kuh welche du deinem Göti [Patenkind] geschenkt hast, hat jezt 2 sehr schöne Kälber, gibt aber fast keine Milch. Felicia ist immer gleich, doch wird jezt ein Sanatorium u. ein Haus für den Doktor gebaut.

Den Le[h]ner u. Rozer habe Ich ein Jahr lang nicht mer gesehen. Was die zwei Büebeni mached, kann Ich jezt dir nicht sagen. Sie sind in Rafaela, wolte si einmal besuchen, ist aber sehr gefärlich für mich, warum weist du woll.

Mehr weis ich dir nicht zu schreiben. Wann kommst du wieder zurück.

Ich will schliessen in der Hoffnung, das dich dieser Brief gesund u. munter antrefe.

Es grüst dich herzlich

Emanuel Wettstein u. Familie

Grüse mir auch Eduard Tscheri u. schreibe mir auch einmal u. das pronto.


  1. In den Unterlagen finden sich drei verschiedene Angaben zum Geburtsjahr von Christian Tscherry. Die Tochter sagte, ihr Vater sei 1846 geboren, Klaus Anderegg nennt als Geburtsjahr 1848, und auf dem Totenandenken heisst es: «gestorben am 3. Dezember 1925 in Gampel, im 73 Lebensjahre». Ich halte die Angabe von Anderegg für verlässlich. ↩︎

  2. Ab hier wechsle ich ins grammatische Präsens. ↩︎

  3. Falcini verwendete – abgesehen von den letzten Briefen – als Währung den Ausdruck «Thaller», gemeint ist aber stets Peso. Zu dieser Zeit werden für einen argentinischen Peso Fr. 2.40 bezahlt. Die genannten 6'600 Pesos entsprechen demnach nahezu 16'000 Schweizer Franken. Schon im letzten Viertel des 19. Jh.s galt in etwa dieser Umrechnungskurs, wohingegen die Zinsen inzwischen stark zurückgegangen waren. In den 1860er-Jahren bezahlte man für ausgeliehenes Geld einen Zins von 12 % und mehr. ↩︎

  4. Im Interview sagte die Tochter auch, der Verwalter habe für ihren Vater das Land verkauft. Das „schönste Land" habe er „wohl selbst" gekauft. ↩︎

  5. In der Mineraliengrube im Binntal bekam ein Mineur 20 Rappen pro Stunde, ein Hilfsarbeiter 18 Rappen. ↩︎

  6. Zu Eustolia gibt’s zwar auf google maps eine Markierung, aber sie zeigt keine Ansiedlung. ↩︎