Zur Geschichte der Familie Eggel aus Naters bzw. San Jerónimo Norte

16. April 2021

(...) Ich habe viel zu schaffen, habe wieder Unternehmung – Steine zu bereiten für den Bahnhoff in Brig. Ich habe den Prozes mit dem Etter [Onkel] Josef reingewonnen; jetzt habe ich gefunden das der Platz neben des Etter Josefs Haus mein ist, wo wir das nächste Jahr ein Haus bauen werden, ich habe schon Baumaterial zubereitet u mit dem Maurermeister Tschugatti abgemacht u schon eine Summe darauf abverdient. Darum sage ich dir wenn wir dir lieb sind u dich an unserer Haushaltung etwas liegt, so musst du unverzüglich trachten dich auf die Rückreise zu begeben u uns hier behilflich sein. Sage dem Etter Josef das es ihm solle daran gelegen sein u dich wieder in die Heimat zu deinen Eltern senden, damit du uns hier beistehen kannst. Alles was ich mit dem gethan habe sei alles für ihn gewesen um ihm die Gesundheit u Langeweile zu konserwieren. Er solle sich daran beschäftigen u alle zusammen werden wohl im Stande sein dich wieder zu deinen Eltern zurückzusenden. Er ist ja geschikt genug u versteht es schon das mir meine beste Hoffnung ist aus dem Hause geraft worden. Vielleicht kann er bei der Regierung eine Freikarte bekommen u sagen du wollest trachten Leute heimzuhohlen. Was mir die Leute leith thun, das ich dich habe lassen fortziehen ist nicht auszusprechen u sie haben auch recht, lernen thust dort nichts, u wir hier zu viel zu schaffen u zu sorgen gnug nach ihrer Abreise habe ich Gliedersucht bekommen und habe grosse Schmerzen ausgestanden aber jetz bin ich wieder gesund u sind alle schön gesund nur die Mutter ist nicht zu trösten u glaubt das sie dich nie mehr sehen werde, sie ist untröstlich. Ist aber das sie dort kein Geld haben um dich hierherzusenden, so schreibe mir schnell, werde ich sogleich dem Brindlen in Sitten schreiben dich auf meine Kösten lassen kommen das wäre ein schöner Vorschlag von uns. (...)1

Das Zitat ist eine Textpassage aus einem Konvolut von 14 Briefen. Alle ausser einem wurden zwischen 1877 und 1882 geschrieben. Sie stammen aus dem Privatarchiv von José Luis Eggel-Lagger aus San Jerónimo Norte (SJN) in der argentinischen Provinz Santa Fe. Gemeinsam mit meiner Frau besuchte ich 2014 auf einer Argentinienreise den von Walliser Auswanderern gegründeten Ort. Man gab uns u.a. Kopien zahlreicher Dokumente bzw. Briefe sowie Kartengrüsse aus der Zeit der Auswanderung mit. Sieben der 14 Briefe schrieb Anton Eggel aus Naters. Sechs an den Sohn Paul, einen an Bruder Josef. Josef und Paul waren in die Kolonie San Jerónimo Norte ausgewandert. Zum Korpus gehören auch zwei in SJN verfasste Briefe von Josef Eggel. Empfänger waren sein Bruder Anton und dessen Sohn Paul (nach seiner Rückkehr ins Wallis). Warum diese zwei Briefe in SJN aufbewahrt werden, ist nicht bekannt.

Auf der Liste der im Jahr 1861 aus Naters Ausgewanderten finden sich auch die Namen Josef Eggel und Kaspar Jossen. Der eine ist höchstwahrscheinlich der eben als Briefschreiber genannte Bruder, der andere der Schwager von Anton Eggel. Josephs und Antons Bruder Johannes wird in den Briefen ebenfalls als einer der Migranten genannt. Sein Name fehlt jedoch auf der Liste. Er sowie sein Neffe Paul dürften zur Auswanderergruppe gehört haben, die um 1876/77, 15 Jahre nach der Gruppe mit Josef Eggel und Kaspar Jossen, nach Argentinien emigrierte. Der Zeitpunkt lässt sich aus den Briefen ableiten. So schreibt Pauls Vater im April 1877, er wolle mitteilen, wie es hier seit eurer Abreise gegangen ist, und im April 1879 meint Pauls Bruder Johann, dass schon zwei Jahre verflossen sind, das du von uns abschied genommen hast.

Josef Eggel wurde für Paul in SJN zum Mentor. Zwischen Onkel und Neffe bestand anscheinend von Anfang an eine emotionale Nähe, was wohl damit zusammenhing, dass Paul sich vom Charakter und von den Interessen her dem Onkel nahe fühlte. Das deutet sich schon in der oben zitierten Briefpassage an, lässt sich aber auch aus Pauls Verhalten – er zeigte vorerst keine Bereitschaft, dem Vater zu gehorchen und ins Wallis zurückzukehren –, noch deutlicher jedoch den späteren Briefen entnehmen.

Zumindest in den ersten zwei, drei Jahren nach Pauls Ankunft in SJN herrscht ein reger brieflicher Austausch zwischen den Ausgewanderten und den Walliser Verwandten. Davon ist in den Texten auch explizit die Rede. So betont Anton Eggel mehr als einmal, wie fleissig er nach SJN schreibe. Nicht nur an seinen Sohn. Das vorliegende Korpus umfasst zweifellos lediglich einen Teil der tatsächlichen Korrespondenz. Da Anton Eggel jeweils auf die Briefe des Sohnes Bezug nimmt, erfährt man auch einiges über deren Inhalt. Und auch, dass Paul weniger schreibfreudig ist als der Vater. Das nährt die Vermutung, er sei nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen den Verwandten in SJN nachgereist, sondern weil ihm die ausgesprochen materialistische Ausrichtung des Vaters nicht behagt. Schon die zitierte Briefpassage lässt erkennen, dass des Vaters Interesse hauptsächlich den Geschäften und weniger der Landwirtschaft gilt. Anton Eggel war in den Jahren 1861-1862 sowie 1871-1876 überdies Gemeindepräsident in Naters.2 Im Gegensatz zu den meisten Eltern, deren Söhne aus Mangel an wirtschaftlichen Perspektiven auswanderten, hat er für die drei Söhne genug Arbeit. Sein Problem besteht vielmehr darin, dass er einzig Paul für fähig hält, ihm bei den gewerblichen Unternehmungen zur Seite zu stehen. Über Sohn Moritz schreibt er am 11. Januar 1879: Moritz ist zum Lehren [!] nichts, ist aber ein guter Arbeiter, welcher mir sehr dienlich ist. Und über Johann lesen wir dort: Er ist selten bei uns und selber für sich / ich habe ihm das Blatten zum Lehen gelassen aber für weiter mag er selbst sorgen.3 Ebenso lieblos bis abschätzig äussert er sich auch über die Tochter Mari.

Dass der Vater in einer gerichtlich ausgefochtenen Auseinandersetzung Recht bekam, dürfte Paul kaum zur Rückkehr motiviert haben. Im Gegenteil, des Vaters Streitlust war vielleicht mit ein Grund, sich der Auswanderergruppe anzuschliessen.

Im weiteren Verlauf des Briefwechsels zieht der Vater zahlreiche Register, um den Sohn gefügig zu machen. So wechselt er immer wieder auf die emotionale Ebene, etwa wenn er von den Tränen schreibt, die Mutter und Grossvater wegen Pauls Abwesenheit vergiessen würden. Dass er den Sohn wieder im Wallis haben will, begründet er regelmässig mit dem Umfang der anfallenden Arbeiten. Das steht an sich im Widerspruch zum Umstand, dass die Auswanderer zum Zeitpunkt der Abreise davon ausgingen, auch er, Anton Eggel, und seine Familie würden ihnen bald nach Argentinien folgen. Im eben zitierten Brief steht auch: Ich habe geschrieben / dass es uns unmöglich sei nachzukommen / unsere Sache hier ist viel zu weit ausgedehnt, da würden wir mit viel zu grossem Verlust davon kommen. Ich habe mich auf guten Fuss gestellt, ich habe seit dem über 2'000 Fr. abgezahlt, habe Speicher und Keller eingefült, habe ausgezeichneten guten Wein / das viele Briger können trinken. Ich habe viel zu schaffen, habe wieder Unternehmung (...)

Es scheint, dass er zwei Jahre zuvor nicht nur in einen Streitfall verwickelt war, sondern auch Schulden hatte. Inzwischen bekam er vor Gericht Recht und ist offenbar daran, sich finanziell aufzurappeln. Die gefüllten Speicher und der Weinvorrat für viele Briger beziehen sich übrigens auf das von ihm betriebene Wirtshaus.

Da der Sohn sich bisher nicht zu einer Rückkehr hat bewegen lassen, versucht er ihm in der Folge den Speck durchs Maul zu ziehen: Im Gegensatz zu Argentinien winke ihm an seiner Seite in Naters finanzieller Erfolg. Mit der Ankunft der Eisenbahn in Brig, malt er ihm aus, eröffneten sich der Familie neue Perspektiven. Im 3. Brief vom Januar 1879 an den Bruder zeigt er sich indessen für einmal erfreut:

Ich bin ganz vergnügt von der Anstellung die du meinem Sohn in St. Fee als Unterkoch verschafft hast. Nur fürchte ich / dieser Brief werde zu spät kommen weil ich ihm am 11ten Januar geschrieben habe er solle sogleich nach Hause kommen weil ich ihn hier sehr nöthig habe u er mich darüber gefragt hat / was er thun solle. Ist er noch da / so sage ihm / er solle sich dort gut einstellen, gut lehren kochen u was noch besser ist Englisch lehren. Das werde uns grossen Nutzen bringen. Er muss wenigstens zwei Jahr dort sein. Bis dann werde ich auf der Bellalp ein schönes Hotel aufgebaut haben / das weit schöner ist als das von Herrn Klingele.

Zwei Dinge stechen hervor, das Hotel-Projekt sowie die Arbeit des Sohnes. Was Paul angeht, so bedeutete des Vaters Freude nur, dass ihm Paul mit den erworbenen Kenntnissen später im Hotel nützlich sein konnte. (Seine Rückkehr ins Wallis hielt er lediglich für aufgeschoben.) Warum Eggel glaubte, der Sohn erwerbe in Santa Fe Englischkenntnisse, bleibt offen. Jedenfalls fragte er sich nicht, welche Sprache in Argentinien gesprochen wird.4

Auch in den weiteren Briefen des Vaters war der Hotelbau das dominierende Motiv. Seine Begeisterung für das Projekt löste aber beim Sohn anscheinend nicht die erhoffte Reaktion aus. Paul Eggel fühlte sich in SJN offensichtlich wohl. Er begann sich zum Beispiel fürs Orgelspiel zu interessieren und schrieb, dass er beim Onkel Noten lesen lerne.5 Der Vater reagierte darauf mit bloss einem Satz: Es freue ihn. Was er tatsächlich davon hielt, drückte er in einem späteren Brief aus: Die Orgel zu schlagen wird dich [!] nicht viel mehr nützen. Als der Sohn auch weiterhin keine Anstalte machte, ins Wallis zurückzukehren, sondern sogar ans Heiraten dachte, schien der Vater dies zu akzeptieren. Im letzten Brief hatte er die Aufforderung, Paul solle nach Hause kommen, noch einmal zugespitzt, indem er ihn moralisch unter Druck setzte. Im Brief habe er gesehen, dass du schon andern Gedanken hast als zurückzukommen u deinen Eltern in ihren alten Tagen Hilfe u Trost zu leisten. Nun es ist einmal so, dass ich mich an meinen Kindern trompiert habe / selbes hätte ich schon längsten können sehen, aber den habe ich immer gedenkt / es muss besser gehen, es muss besser gehen, aber was ist zu thun / ich mag denken ich sei selbst die Schuld / weil ich nicht bessere Disziplin mit euch gehalten habe.

Was sich wie ein Resignieren anhört, war in Tat und Wahrheit eine implizite Beziehungsbotschaft von der Art: ‚Du zeigst dich als missratener Sohn, wenn du nicht weisst, welche Verpflichtungen du den Eltern gegenüber hast.' Dem folgt im Satz darauf eine moralische Zurechtweisung anderer Art. Dass er in SJN Heiratsabsichten habe, das könne man akzeptieren, aber deine Base zu heurathen / selbes ist nicht glücklich / so wie man hier sagt.6 Gegen Schluss schrieb er noch: [W]illst du aber dort bleiben / das ist deine Sache / ich will dir noch wehren noch rathen. Das war rhetorisch geschickt gemacht. Unmittelbar vorher hatte er nämlich ein weiteres Mal dargelegt, dass er in Naters nun in einer Position sei, aus der heraus er und Paul (nicht etwa die ganze Familie), falls er doch heimkehre, nun den wirtschaftlichen Erfolg einheimsen könnten.

Paul Eggel wurde nicht nur vom Vater unter Druck gesetzt. Im Frühjahr 1879 erhielt er auch einen Brief von seinem Bruder Johannes. (Im Jahr 1879 wurden mindestens vier Briefe, im Wesentlichen immer dieselben Angelegenheiten betreffend, nach SJN adressiert.) Der warf ihm vor, dass er mit der Auswanderung dem Vater seine Arbeitskraft vorenthalte. Bei der Feldarbeit könnten er, Johannes, und Moritz dem Vater schon helfen, aber im Haus brauche dieser Hilfe, absonderbar wen dem Vater die Spekolation gut ergehtt, auf der Belalp. Wie sehr Johannes – im Gegensatz zu Paul! – nach dem Vater geriet , zeigt sich darin, dass es im Brief ansonsten fast nur um eines ging, um Besitz und materiellen Erfolg. So zeigte er sein Missfallen, dass das Mari [die Schwester] Ignaz Lehner heiraten und dabei womöglich die Vertheilung umwerfen wolle. Dabei habe der Vater mit Lehner zuvor schon eine (für die Familie Egge anscheinend günstige) Erbverteilung ausgehandelt. Immerhin blickte er der Zukunft zuversichtlich entgegen, denn im Gebiet Booden werde ihnen (nach der Verteilung des Grossvater-Erbes) das meiste Land gehören, sodass sie dann Geld genug machen könnten.

Bemerkenswert sind die Kontraste zwischen den Wohlstand verheissenden Ködern und den liebevollen Anredeformeln, sowohl in den Briefen des Vaters als auch in dem des Bruders. Der Vater begann die Rede jeweils mit Liebster Sohn Paul!, Liebwertestes Kind! oder ähnlichem, und Johannes setzte ein mit Vielgeliebter Bruder und gebrauchte bei den expliziten Appellbotschaften im Brief Anredeformen der folgenden Art: vielgeliebter Bruder vergiss uns nicht ... / geliebter Bruder bedenke recht ... / gönne uns also die erfreuliche Stunde, dich zu empfangen u zu umfangen ... / am Ende des Briefes schliesslich: u auch ich grüsse dich recht herzlich u verbleibe dein dich liebender Bruder. Inwieweit es sich um damals konventionelle Formulierungen handelt oder um individuelle Ausdrucksweisen, bleibe dahingestellt. Es ist jedenfalls zu vermuten, dass der Vater und der Bruder auch deshalb emotionale Verbundenheit gegenüber Paul ausdrücken, um ihre Überzeugungskraft zu steigern.

Dass Paul Eggel lieber in Argentinien blieb, ist nachvollziehbar. Er glaubte eine Ehepartnerin gefunden zu haben, und er fühlte sich in der neuen Umgebung wohl, vermutlich gerade deshalb, weil er in Josef Eggel einen väterlichen Freund hatte. Demgegenüber schwärmten Vater und Bruder zwar vom kommenden materiellen Wohlstand, aber ebenso häufig berichteten sie von Streitereien, die vor Gericht ausgetragen wurden. Wie er dabei wieder gewonnen habe, war so etwas wie das zweite Leitmotiv in den Vater-Briefen. Und seine Spekolation auf der Belalp war ein Projekt, bei dem anscheinend einiges im Verborgenen bleiben musste. Im einem der Briefe von 1879 betonte er, mit dem Hotelbau auf Belalp wolle er in Konkurrenz treten zum Hotelier Klingele. Dessen Betrieb zu übertrumpfen war die Absicht. Dass er in Tat und Wahrheit Strohmann war, verschwieg er während langer Zeit. Erst in einem weiteren Brief von 1879 gab er Auskunft über seine Rolle. [D]er Herr Seiler, Catrain u Klausen in Brig seien die Projektverantwortlichen. Seiler wolle ihn haben, weil ich Burger bin u alles billiger von der Gemeinde haben kann u für Geld werde er schon sorgen. – Gegen den Verkauf des Grundstücks an ihn wurde beim Grossen Rat Einspruch erhoben. Neben Klingele intervenierte auch ein Mann namens Hansmartin Salzmann. (Die Rolle von Salzmann bleibt unklar, aber zwei von Eggels Äusserungen legen nahe, dass es ihm auch darum ging, offene Rechnungen zu begleichen. Er werde dem Mann auf Blatten schon zeigen was heisst einen von Haus und Land stossen. Auch jetzt, schrieb er, sei ihm von Salzmann wieder etwas angetan worden.

In einem der ersten Briefe erfahren wir, dass Eggel ihm Geld schuldete, aber auch, dass Tochter Mari bei Salzmann in Stellung war – eventuell um mitzuhelfen, die Geldschuld des Vaters abzutragen.) Eggel war überzeugt, dass er den Bauplatz bekommen würde, denn von der hohen Regierung habe er das Urtheil / das mir der Boden zu gesprochen ist u das kommt in der nächsten November Sitzung fertig u kann nicht anderst gehen als mir bleiben.

Wie der Streitfall entschieden wurde, wissen wir nicht, denn nach 1879 gab es keine weiteren Briefe aus Naters. Der Grund: Paul Eggel hatte dem Drängen des Vaters nachgegeben und war ins Wallis zurückgekehrt – höchstwahrscheinlich Ende Februar oder anfangs März 1880. Was Im Übrigen Belap betrifft, so wurde dort in der Folgezeit kein weiteres Hotel gebaut, weder von Alexander Seiler und Emil Cathrein noch von Anton Eggel.

Wir beenden die Sequenz mit den zwei bemerkenswertesten Briefen der Sammlung. Geschrieben im Mai 1880 und im Februar 1881 von Josef Eggel. Der erste war an den Bruder gerichtet, der zweite an den Neffen.

Colonia San Geronimo Provincia de Santa Fé Republica Argentina (…)

Lieber Bruder Anton!

Am 24ten dieses habe ich deinen werthen Brief vom 3ten April letzthin mit grosser Freude erhalten. Es soll daher auch nicht lange gezögert werden um dir denselben zu beantworten u das umso mehr weil ich u dein Paul so miteinander bei unserer Trennung sind verblieben worden. Wie oft war ich gespannt u neugierig zu wissen, wie ihm seine beschwerliche Rückreise nach der alten Heimath möchte ausgefallen sein, bis ich endlich durch deinen Brief Auskunft bekommen habe. Es freut mich sehr, dass er eine glückliche Ueberfahrt hat machen können u dass Sie ihn jetzt wiederum in Ihrer Mitte haben, obschon wir es fühlen müssen seiner Gegenwarth beraubt zu sein. Seit seiner Abreise ist sicher kein einziger Tag versstrichen, wo wir an ihn nicht gedacht haben, und ganz besonders meine Kinder. Nun mögen auf dieser Welt alle Freuden u alle Leiden so gross sein, wie sie wollen, so muss man doch nie vergessen, dass sie Alle ein Ende nehmen u dass in der anderen Welt auf uns, entweder ein immerwährendes Glück oder Unglück wartet, je nachdem unser Leben ist. Daher wäre es am Platz, wenn man hier u da in Betracht zöge, dass ein magerer Vergleich mehr werth ist, als ein fetter Prozess. Bei diesem Gleichniss fällt mir gerade dein Brief ein, welchen du unlängst an unsern Schw. Kasp. Jossen übersendet hast. Derselbe setzte uns in Kenntniss über den Rechtshandel, der für dich abermals gut ausgefallen sei u über den Bau eines Gasthofes auf der Bellalpe, den du jetzt im Begriffe seist anzufangen.

Ob dieser Plan reichlich überlegt ist, das wird die Erfahrung wohl am besten zeigen. Sehr oft ist es rathsam, wie man die Worte erwählt: traun, schaun wem. Diese kleine Bemerkung füge ich nur desshalb bei, weil dein Glück u Unglück auf mich den gleichen Effekt macht, als wie jede andere Sache auf den, der es mit seinem Bruder redlich meint. Nach meinem Dafürhalten solltest du deinen väterlichen Pflichten wohl nachgekommen sein, ohne dich in deinem Alter noch mehr zu sorgen, oder wofür wäre alles das schöne Vermögen dessen rechtmäss[ig]er Besitzer du jetzt bist gekommen! Man kann doch das Wort bei dir in Anwendung bringen: dass brave Söhne die Ehre ihres Vaters u keusche Töchter der Schmuk ihrer Mutter sind. Diesen Beweis hat dir dein Paul schwarz auf weis aus Amerika gebracht, was nach meiner Ansicht wohl mehr werh ist, als wenn er (…)orkommen [evtl. verkommen] wie so viele Andere, aus seiner Fremde wiedergekehrt wäre u dabei meinetwegen Etwas gebrochen französisch oder englisch etc. spräche.

Du kannst daher Gott danken, so wie dein Weib, nebst all den Kindern, dass sie so zu sagen bald den grossen Gefahren der Jugendjahren entgangen sind u ich zittre, wenn ich bedenke, dass die Meinen an der Schwelle der selben sind. Daher kann ich nicht umhin mich an Sie zu wenden, damit wir gegenseitig unser Herz zu dem richten, der ewig weit höher über der schönen Bellalpe wohnt.

Ueberdies danke ich Euch Allen für sämtliche Dienste die Sie mir bis dahin geleistet haben u will einige Kleinigkeiten in dem beigelegten Briefchen, welches ich für den Paul schreibe anmelden.

Schw. Kasp. Jossen ersucht mich, dir Folgendes beizufügen: (...)7

Herzlich grüsst Euch

Bruder Jos. Eggel

Der vierseitige Brief an den Neffen Paul vom Februar 1881 ist thematisch breit gefächert. Josef Eggel informiert summarisch über das Geschehen in SJN seit Pauls Abreise. Eine Passage sei hier ungekürzt wiedergegeben:

Die Alte ist jetzt an ihrem Bein wieder curiert u ihr Schwager Eberhart ist kurz vor der Ernte wegen seiner schmerzhaften u langweiligen Krankheit gestorben, der Schuhmacher Bittel von Turtmann ist leider unversehen aus dieser Welt verreist, möge ihm die Erde leicht sein, obschon er in einer wilden Ehe lebte. Ebenso Wagner Georg (Schorsch) ist im betrunkenen Zustande unversehen gestorben; eine schöne Predigt für die Säufer; der längere Fondero, David Rocetti von der italienischen Fonda in Esperanza hat sich vor 3 Tagen dort in seinem Hause erschossen u wurde in seinem Hofe eingescharrt. Dem Ig[naz]. Zuber, welcher zum zweiten Male eine Reise nach seine alte Heimat macht, ist wiederum die Frau gestorben. Es war fast am Platze, dass er wieder neue Ehen gab, in Folge dass der Todt so gehaust hat. Der Ersatz dafür war: dass die Witwe Dr. Amather sich mit Nikolaus Matthü [Matthieu], Waldburga Michlig mit dem Feligs (Speckmader) (Schmidt seines Zeichens) Moritz Eberhart, Knecht vom Alexander Schweri[,] mit Philomena Krugler sich verheirathet haben.

Die telegrammartige Berichterstattung zeigt ein Bild von den rauen Lebensumständen in den Kolonien westlich von Santa Fe. Auch der Hinweis über die ziemlich gute Ernte vermag daran nichts zu ändern. Josef Eggels Ausführungen über die Maria Lichtmess-Festfeier jedoch machen deutlich, was er hauptsächlich erzählen will: die Freude über das kulturelle Gedeihen in der Gemeinde der Walliser Auswanderer. Vom hiesigen «Reichtum» zeuge, dass das Fest mit harmonischem Klang dreier Glocken angekündigt worden sei. Diese habe man reichlichen Beiträgen von gutgesinnten Colonisten zu verdanken. Die Orgel habe der Musiklehrer der Jesuiten in Santa Fe übernommen. Das ist eine implizite Botschaft an den Neffen, der unter seiner Anleitung Noten zu lesen und Orgel zu spielen gelernt hat. Verbunden damit ist die Enttäuschung darüber, dass Paul ihn seit seiner Abreise ohne Nachricht lässt. Mit 80 Franken hat er ihm im Übrigen die Rückreise erst ermöglicht. Und nun liess ihm Paul offensichtlich als Gegenleistung durch Johann Josef Imhoff vier Flaschen Oel überbringen.8 Diese seien ihm treulich eingehändigt worden, schreibt er. Aber eben , ohne dabei etwa noch ein Briefchen beizubringen. Und jetzt wird Josef Eggel für einmal ironisch, fast sarkastisch: Aber wenn du auf Alles eingehen solltest oder halten, was man hier u da im Scherze verspricht, so kämest du mit deinen Comissionen nicht zum Ende (...). Besonders irritierend dürfte für ihn gewesen sein, dass der Neffe kurz zuvor einen Brief nach SJN geschickt hat, aber nicht an ihn adressiert, sondern an den Schwager Moritz Jossen. Josef Eggel schloss vorerst daraus, dass Sie9 mir auch gleichzeitig einen geschrieben haben; bis dahin habe ich Nichts erhalten.

Man kann die Enttäuschung nachvollziehen. Er und Paul waren sich weltanschaulich nahe, und der Start des jungen Mannes in SJN hatte sich vielversprechend angelassen. Der Kommunikationsabbruch ist für den Mentor schockierend. Der Brief endet nicht mit einer Grussbotschaft, sondern nur mit der Unterschrift: Jos. Eggel.

Ich habe keine Kenntnis über Paul Eggels weiteren Lebenslauf. Der letzte Kurze Text Im Korpus liefert lediglich einen indirekten Hinweis. Er ist datiert auf den 21. Februar 1891 und unterschrieben von seinem Vater Anton Eggel. Es handelt sich nicht um einen Brief, sondern um ein Dokument, worin das Ergebnis einer amtlichen Versteigerung festgehalten wird – mit Anton Eggel als Sachwalter. Es ging um einen Acker, der von Antons Sohn Moritz angesteigert, jedoch seinem Bruder Paul überlassen wurde. Die Besitzerin, anscheinend damals in Amerika (Süden) wohnhaft, erkannt[e] das Ergebnis der Versteigerung an. Sie wird bezeichnet als: Seiner Tochter Witwe Anton Schmidt geboren(e) Eggel. Möglicherweise handelt es sich um Eggels Tochter Marie. Später als ihr Bruder Paul wäre demnach auch sie nach Südamerika ausgewandert. Wie auch immer, dem schwer verständlichen Text lässt sich entnehmen, dass Paul Eggel elf Jahre nach seiner Rückkehr aus SJN weiterhin im Wallis wohnt und höchstwahrscheinlich Landwirt ist. Auch den Preis für den Acker erfährt man: Franken hundertneunzehn.

Ob es nach der Rückkehr ins Wallis zwischen Paul Eggel und dem Onkel noch zu brieflichen Kontakten kam, ist nicht bekannt, jedoch unwahrscheinlich. Auch diese Briefe wären aufgehoben worden.

Dass sich der junge Mann 1880 beim Onkel lediglich mit vier Flaschen Öl bedankte, lässt sich vielleicht mit dem schlechten Gewissen erklären, dass er mit der Heimkehr sowohl die Werte des Onkels als auch seine eigenen verraten hat.

Ich habe hier bisher Paul Eggels Vater und Bruder ihrer materialistischen Haltung wegen ähnlich kritisch beurteilt, wie es damals Josef Eggel tat. Der Sachverhalt lässt sich jedoch auch anders werten. Zu den Ursachen der Walliser Auswanderung wurde oben auch ausgeführt, dass die Oberwalliser an ihrer bäuerlichen Identität festhielten, wenig bis gar nicht innovativ waren und – zugespitzt formuliert – lieber auswanderten als sich nach anderen Existenzmöglichkeiten umzusehen. Anton Eggel erscheint in diesem Kontext als innovative Persönlichkeit. Als jemand, der die Zeichen der Zeit erkannte und die sich abzeichnende Entwicklung als Chance begriff. Das bäuerliche Gewerbe überliess er den Söhnen, um sich gewerblich und touristisch umtun zu können. Die angesprochene Beziehung zu den Hoteliers Alexander Seiler und Emil Cathrein belegen dies. Tatsächlich setzte in der Zeit des hier vorgestellten Briefwechsels in der Schweizer Hotellerie die vielleicht bedeutendste Entwicklungswelle ein. So stieg im Wallis die Zahl der Hotels von 79 (um 1880) auf 321 kurz vor dem 1. Weltkrieg. Dass Seiler und Cathrein den Natischer Anton Eggel ins Belalp-Projekt einspannten, kann man als Beweis dafür

nehmen, dass sie ihm einiges zutrauten.10

Die hier vorgestellten Briefe mögen atypisch sein; sie zeigen gegensätzliche Weltanschauungen, die zu familiären Spannungen führten und womöglich dazu beitrugen, dass einzelne Familienmitglieder auswanderten. So wenig repräsentativ die dargelegten Konflikte auch gewesen sein mögen, sie zeugen von divergierenden Wahrnehmungen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts.


  1. Der Text wird in der originalen Schreibweise wiedergegeben, sowohl bezüglich Orthografie als auch Zeichensetzung.) ↩︎

  2. Die Lebensdaten des auf der Liste der Gemeindepräsidenten von Naters (Wikipedia) zweimal aufgeführten Anton Eggel entsprechen denen des Vaters von Paul Eggel. ↩︎

  3. Die hinzugefügten Schrägstriche dienen der besseren Lesbarkeit. (Eine Eigenart damaliger Briefe ist die teilweise fehlende Zeichensetzung; auch Satzenden bleiben häufig unmarkiert.) ↩︎

  4. In diesen Kontext gehört auch die Tatsache, dass in den Briefen (nicht nur hier bei den Eggel-Briefen) fast durchwegs der undifferenzierte Ausdruck „Amerika" gebraucht wird, ob nun jemand nach Argentinien oder in die die USA auswanderte. ↩︎

  5. Josef Eggel und sein Bruder Anton hatten beide eine Lehrer-Ausbildung hinter sich. Im Vergleich zu seinem Bruder fällt Josefs deutlich grössere sprachliche Kompetenz auf. Er schreibt eloquent und grammatisch-syntaktisch nahezu fehlerfrei. Nach Auskunft von Klaus Anderegg gründete er die Schule in SJN. ↩︎

  6. Eheschiessungen zwischen Cousins und Cousinen wurden damals in der Schweiz von der Kirche auf entsprechende Gesuche bewilligt. ↩︎

  7. Die letzten dreieinhalb Zeilen des Textes wurden zweifellos von Kapar Jossen geschrieben. Nicht nur die Schrift verrät dies, sondern auch der unbeholfen wirkende und ohne Kontext kaum verständliche Text ↩︎

  8. Imhoff dürfte ein Kolonist gewesen sein, der auf Kurzbesuch im Wallis weilte und dem – wie damals üblich – besondere Waren und Briefe an Verwandte in Argentinien mitgegeben wurden. ↩︎

  9. Dass man auch nahe Verwandte siezte, war damals im Wallis nicht ungewöhnlich. (Ich kenne eine Familie im Binntal, wo die erwachsenen Kinder ihrer Mutter gegenüber bis zu deren Tod das Pronomen „ihr" statt „du" gebrauchten. ↩︎

  10. Alexander Seiler (1819-1891) aus Blitzingen und Emil Cathrein aus Brig waren Walliser Hotelpioniere. Seiler leitete 1855 mit dem Hotel «Monta Rosa» die Geburtsstunde des Tourismus in Zermatt ein. Seine drei Söhne wurden ebenfalls Hoteliers. Joseph insbesondere in Gletsch mit dem Hotel «Glacier du Rhône» und weiter oben an der Furkastrasse mit dem «Hotel Belvédère». Alexander Seiler war verheiratet mit Katharina Cathrein. Das war Anlass für ihren Bruder Emil (1847-1916), sich ebenfalls dem aufstrebenden Tourismus resp. dem Gastgewerbe zu widmen. Er wurde zum Hotel-Pionier der Aletschregion. Wie Seiler als Nationalrat war auch er politisch tätig, von 1889-1915 als Briger Gemeindepräsident und bis 1913 24 Jahre lang als Grossrat. ↩︎