Von der Idee zur Vorbereitung

1. April 1999

Auf den Karakorum-Highway in Nordpakistan war ich in einem Mountainbike-Magazin aufmerksam geworden. Faszinierende Bilder und Schilderungen von Kontakte mit Einheimischen wurden zum Impuls, dorthin zu reisen. Das Streckenprofil und die zu erwartenden Temperaturmaxima und -minima würden mir einiges abverlangen, aber ich suchte ja gerade eine Herausforderung. Da ich ab den Sportferien 1999 ein halbjähriges Sabbatical, eine Auszeit von der Schule, nehmen konnte, kam die Idee Karakorum wie gerufen. Vielleicht symbolisierte sie auch eine Flucht aus dem Schulalltag. Jedenfalls wollte ich während dieses halben Jahres Abstand davon gewinnen. Nicht weil mir das Unterrichten verleidet war oder ich mit Klassen nicht zurechtkam. Was mir zu schaffen machte, war die Gleichförmigkeit. Ich war meiner Arbeit nicht entfremdet, aber es fehlte das Erzählenswerte. Die vergangenen Jahre Revue passieren lassend, konnte ich zum Beispiel wenige Ereignisse örtlich oder zeitlich einordnen. Unterrichten war für mich weiterhin reizvoll, aber das Drumherum frass zu viel Lebenszeit. Ganze Wochenenden lang Aufsätze und Prüfungen zu korrigieren empfand ich zunehmend als Mühsal. Ebenso die regelmässigen Konvente, wo so oft Triviales diskutiert wurde. Während solcherart buchstäblichen ‘Sitzungen’ fühlte man sich ebenso unfrei wie unproduktiv.

Am Anfang der Novelle «Der Tod des Iwan Iljitsch» schreibt Tolstoi, das Leben seines Helden sei äusserst einfach und äusserst gewöhnlich und daher äusserst entsetzlich. Ähnliches von mir zu behaupten, wäre übertrieben gewesen. Aber ich hatte das Bedürfnis nach einem Zeitintervall intensiveren Lebens. Darum setzte ich während der Auszeit mit voller Absicht nicht auf die übliche (und an sich erwartete) berufliche Weiterbildung. Ich wollte vor allem Primärerfahrungen machen.1 Ob mir das nach der Rückkehr in den Schulalltag nützen würde, war für mich zu diesem Zeitpunkt nicht von Bedeutung. Ebenso wenig fühlte ich mich verpflichtet, meine Pläne gegenüber Behörde oder Rektorat zu rechtfertigen.2

Schon gleich nach dem Beginn des Freisemesters war ich für einige Wochen in die USA gereist. Dort war ich von Las Vegas aus vorerst allein, später mit einem ehemaligen Mitschüler aus der Gymizeit und die letzten zwei Wochen mit meiner Frau in einem Camper unterwegs. Die Fahrten ging durch Utah, Colorado und Arizona. Ziele waren besondere Landschaften, die Nationalparks Zion, Bryce, Death Valley, Escalante und Joshua Tree ebenso wie der Grand Canyon. Auch auf dieser Reise hatte ich das Velo dabei. Besonders abends machte ich oft kleine Ausfahrten. Wenn wir uns an einem Ort etwas länger aufhielten wie zum Beispiel in Moab (Colorado), gab’s auch ausgedehntere Touren, ganz im Süden einmal bei Mondschein eine Nachtfahrt durch den Joshua Tree Nationalparkt entlang der mexikanischen Grenze. Ich unternahm auch einen Kurztrip nach Mexiko, bei dem ich mir vorher von einem Grenzoffizier sicherheitshalber bestätigen liess, man werde mich danach wieder einreisen lassen. – Im Frühsommer dann wollte ich auf dem Karakorum-Highway Nordpakistan und die chinesische Uiguren-Region Xinjiang zwischen dem Khunjerab-Pass und Kashgar mit dem Velo erfahren. Dass ich hier allein unterwegs sein würde, war klar. Weder kannte ich jemand, der als Mitfahrender infrage kam, noch wollte ich via Internet nach einem Begleiter suchen. Ich konnte die erwarteten Strapazen niemandem zumuten, ging jedoch davon aus, unterwegs auf Radtourenfahrer zu treffen.

Ich hatte, wie gesagt, im Voraus einigen Respekt vor dem Abenteuer. Was würde ich zum Beispiel tun, wenn ich mich schon nach wenigen Tagen überfordert fühlte? Bedenken hatte ich weder wegen der Distanz noch wegen der Höhenunterschiede. Da ich die täglichen 40 km zur Schule und zurück das ganze Jahr über mit dem Bike oder dem Rennrad zurücklegte, fühlte ich mich fit genug. Kopfzerbrechen machten mir eher die zu erwartenden hohen Temperaturen und die später rauen klimatischen Bedingungen auf fast 5'000 m ü. M. Obwohl ich keine Erfahrungen hatte, was Aufenthalte in grosser Höhe betrafen, machte ich mir deswegen keine Sorgen. Über mögliche Symptome und wie darauf zu reagieren war, wusste ich Bescheid. Offene Fragen betrafen dagegen Dinge wie Kleidung und Ernährung. Durfte ich in Pakistan in kurzer Hose pedalieren? Oder: Wie würde ich auf ungewohnte Nahrung reagieren?

Auf Radtouren muss man mit einem Minimum an Gepäck auskommen. Auf dem Mountainbike führte ich Hinterradtaschen, einer Tasche auf dem Gepäckträger (die ich auch als Rucksack gebrauchen konnte) und einer Lenkertasche mit. Um Gewicht zu sparen, verzichtete ich auf Fronttaschen. Dafür hatte ich mir von einem Velomechaniker an beiden Vorderradgabeln Flaschenhalter für 1.5l-Petflaschen konstruieren und montieren lassen. So konnte ich zusätzliches Wasser mitführen. Einen Wasserfilter nahm ich nicht mit. Stattdessen ein Fläschchen mit dem Desinfektionsmittel Betadin. Den Tipp hatte mir ein Tourenfahrer gegeben. Damit könne man auch Wasser keimfrei machen. Ein Apotheker überprüfte die Methode für mich und befand sie für tauglich.

In die Hinterradtaschen verstaute ich eine Pfanne, Teller, Tasse, Besteck und einen Kocher mit Benzin- oder Petrolvergaser. Als Notnahrung kamen vakuumierte Kleinportionen Trockenfleisch, frische Landjäger (so vom Metzger empfohlen), sowie Bouillonwürfel und eine fein gemahlene Getreidemischung mit. Dazu ein Werkzeugset sowie Ersatzteile wie Bremsbeläge, Speichen, Flickzeug und einen Reserveschlauch. – Wo blieb jetzt noch Platz für Kleider, Zelt und Schlafsack? Das eine oder andere Kleidungsstück liess sich noch in die Saccochen stopfen, das meiste aber wurde in die Rucksack-Tasche verstaut. Da ich mich auch auf Regen und Kälte einstellen musste - auf der Höhe des Khunjerab kann es zu jeder Jahreszeit schneien –, nahm ich ausserdem eine Fleecejacke, Handschuhe und Schuhüberzüge mit. Für einiges, was ich gerne dabeigehabt hätte, fehlte der Platz. Unverzichtbar waren Minizelt und Schlafsack. Beides würde ich obendrauf festmachen.

Wie viel Velo und Gepäck insgesamt wogen, weiss ich nicht mehr. Kurz vor der Abreise packte ich jedenfalls alles aufs Rad und fuhr ein ansteigendes Strassenstück an unserem Wohnort hoch. Das war wenig aussagekräftig, aber immerhin zeigte sich, dass ich so fahren konnte. – Geklärt war die Frage, wie Bike und Taschen für den Flug verpackt werden sollten. Die Fluggesellschaft Emirates akzeptierte fürs Velo eine Plastikhülle, wie man sie für den Velotransport in der SBB benutzte. Die gefüllten Radtaschen steckte ich in einen reissfesten Nylonsack. Beides liess sich später mitführen, ohne Volumen und Gewicht übermässig zu vergrössern.

Samstag, 15. Mai 1999: der Tag vor der Abreise. Meine Frau Margrit und ich trafen uns mit einem befreundeten Ehepaar in Luzern. Wir feierten Margrits Geburtstag. Viele Wege und Strassen der Stadt standen zu diesem Zeitpunkt unter Wasser oder waren durch Sandsäcke geschützt. Die Woche zuvor hatte es anhaltend und intensiv geregnet, so dass Bäche, Flüsse und Seen überliefen. (Später sprach man vom Jahrhunderthochwasser.) Über Pfingsten, eine Woche später – ich war da bereits in Pakistan – sollte sich dasselbe wiederholen.3 Das Hochwasser gab an diesem Samstag in Luzern so viel zu reden, dass die bevorstehende Reise thematisch nicht dominierte und die Anspannung bei mir nicht weiter anstieg.

Gut 24 Stunden später – um 18:30 Uhr Ortszeit: Zwischenlandung in Istanbul, wo weitere Passagiere zusteigen sollten. Viele können es nicht gewesen sein, schrieb ich doch ins Reisetagebuch, wo denn die Leute blieben, die ab hier mitfliegen sollten. Wenn es so bleibt, habe ich bis Dubai viel Platz. Auf dem freien Sitzplatz neben mir konnte ich meine Sachen deponieren. Der Flug bis hierher war angenehm gewesen, auch deshalb, weil der Passagierraum gut schallisoliert war. Wir waren schon mal zwischenverpflegt worden. Für den Weiterflugs war ein mehrgängiges Menü angekündigt. Die Speisekarte jedenfalls war vielversprechend.

Als ich mich auf dem Flughafen Zürich von Margrit und Zeno verabschiedet hatte, konnte ich meine Beklommenheit nicht verbergen. Es flossen kurz Tränen. Auf eigene Faust nach Pakistan und China zu reisen, war eben von vielerlei Fragezeichen begleitet. Sie bedrängten mich jetzt stärker. In nächster Zukunft sollte das bisher Virtuelle der Wirklichkeit Platz machen. Ich konnte zum Beispiel nicht davon ausgehen, mit der Familie via Mail oder Telefon – Smartphones gab’s noch nicht – regelmässig Kontakt zu haben.

Als ich im Flugzeug sass, sah ich meine Frau und Zeno, unseren Jüngsten, auf der Terrasse stehen. Zu ihnen Kontakt aufnehmen konnte ich nicht mehr, aber zu sehen, wie sie warteten, bis sich das Flugzeug vom Gate wegbewegte, und dabei winkten, war schön. Ich hatte im Übrigen bei der Gepäckaufgabe Glück gehabt. Seltsamerweise hatte die Waage fürs Bike nur sieben statt der tatsächlichen 16 Kilo angezeigt. Die Frage, ob die Grenze von 28 Kilo überschritten würde, war beantwortet.


  1. Nach meinen Beobachtungen mangelt es vielen Lehrpersonen an Primärerfahrungen, am sinnlichen Kontakt mit Realitäten ausserhalb der Bildungswelt. Vieles von dem, was sie vermitteln, ist Wiedergabe von Angelesenem. ↩︎

  2. Tatsächlich verfasste ich auch am Ende des Urlaubs keinen Rechenschaftsbericht über meine Tätigkeiten während dieser freien, aber besoldeten Zeit. ↩︎

  3. In einem Bericht des Bundesamtes für Wasser und Geologie ein Jahr später hiess es u.a.: «Die beiden Hochwasser vom 10. - 15. Mal 1999 (Auffahrt) und vom 22. Mai 1999 (Pfingsten) verursachten zusammen direkte Kosten im Umfange von ca. 580 Mio. CHF. Grössere Schadensummen wurden 1987 und 1993 erreicht, aber auch 1978 wurden Schäden In ähnlicher Grössenordnung registriert. Somit muss 1999 als das viertgrösstes Schadenjahr seit 1972 eingestuft werden und kann vom Ausmass der finanziellen Schäden als selten aber nicht als aussergewöhnlich bezeichnet werden. Die Besonderheit liegt in der langen Dauer und der grossen räumlichen Ausdehnung der Hochwasser, waren doch praktisch alle Gebiete der Deutschschweiz mit Ausnahme des Inneralpinen Raumes mehr oder weniger stark betroffen. Man muss bis ins Jahr 1910 zurück gehen, um ein in diesem Ausmass vergleichbares Hochwasserereignis zu finden.» (Quelle: Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation) ↩︎