Auswanderungsagenturen und Gegenpropaganda

1. Mai 2021

Für die erste Auswanderergruppe um die Brüder Lorenz und Johannes Bodenmann organisierte die Basler Agentur Beck & Herzog die Reise. Erste Agenturen gab es bereits nach 1830. Ihre Zahl vergrösserte sich nach der Jahrhundertmitte. Für sie war es ein einträgliches Geschäft. In den einzelnen Kantonen wurden Unteragenten beschäftigt, die Interessierte berieten (oftmals wohl auch überredeten) und Vertragsabschlüsse vorbereiteten. In dieser Funktion waren Leute tätig, die über viele Sozialkontakte verfügten und einiges Vertrauen genossen, amtliche Würdenträger wie Notare oder Präfekten, aber auch Wirte, in einem Fall auch ein Coiffeur. Ebenso der Arzt Johann Tenisch aus Mörel.

Die meisten Agenturen hatten ihren Sitz in Basel, da mit dem Rhein der Wasserweg zu den Nordseehäfen zur Verfügung stand. Die Walliser reisten aber auch über Marseille und Genua. Die Agenturen reservierten die Schiffsplätze und waren oft auch verantwortlich für den Weitertransport von den Zielhäfen zum Bestimmungsort, ja sogar für die eigentliche Kolonisation. Selbst für die sichere Beförderung der mitgeführten Geldmittel sorgten sie öfters, nämlich in der Form von Wechseln, die sie im Zielland auszahlten. Die unkundigen Migranten hätten die Reise nicht selbst organisieren können. Und die Begleitung von sprachkundigen Agentur-Mitarbeitern bedeutete auch Sicherheit.

Die Walliser Oberschicht, amtliche Würdenträger ebenso wie die Geistlichkeit, wandte sich gegen die Emigration der Landsleute. Man sah im Verlust von Steuergeldern und im Abfluss von Kapitalien eine Schwächung des Staates. Entsprechend wurden in Zeitungen gezielt Stellungnahmen gestreut, in denen die Auswanderung als schädlich und überflüssig beurteilt wurde. Wer sparsam sei, so stand zu lesen, der könne im Wallis besser leben als in «Amerika». Die herrschende Armut wurde ebenso tabuisiert wie die Tatsache, dass viele Bergbauernfamilien trotz harter Arbeit eine kümmerliche Existenz fristeten. Emigration wurde für diese zur einzigen Option. Entsprechend gross blieb die Nachfrage nach Information durch regionale Agenten.

Klaus Anderegg zitiert in seinen Ausführungen eine Zeitungsannonce der Firma Haasenstein und Vogel in Basel im «Walliser Boten» vom Januar 1886:

Guten Nebenverdienst kann derjenige haben, welcher die Agentur einer sehr bedeutenden transoceanischen Dampfschifffahrt Gesellschaft übernimmt. Es wolle sich nur solche mit guten Referenzen melden und wird noch besonders darauf aufmerksam gemacht, daß die Anmeldungen sogleich geschehen müssen. Offerten (...) an Haasenstein und Vogler in Basel.

Und als Beispiel für direkte Anwerbung sei das Inserat im «Wal­liser Boten» vom Mai 1873 wiedergegeben:

Nachrichten für Auswanderer. Nächsten Herbst finden verschiedene grössere Auswanderertransporte nach Süd- und Nord-Amerika statt, die bis in den Seehafen begleitet werden. Gewissenhafteste und billigste Beförderung wird zugesichert. Für jede Auskunft, Broschüren und Brief-Auszüge der Kolonisten, sowie zum Anschlusse an obige Abfahrten wende man sich an Jos. Marie Schnider, Auswanderungsagent in Brig.

Nachdem er eine Werbebroschüre gestreut hatte, bekam der Siderser Notar und Unteragent Besse am 27. September 1855 folgenden Brief von Franz Josef Hauser aus der Gommer Gemeinde Biel:

Es ist hier im Wallis im Zehnden Goms auch ein Büchli zu Vorschein gekommen über die Auswanderung in eine Kolonie in der Nähe Santa-Fe in der argentinischen Eidgenossen­schaft Süd-Amerika. Sohin befinden sich hier mehrere Familien, wel­che Lust haben sich da­hin zu begeben; wünschte[n] aber zu wissen, ob das Stück Land, so ihnen dargemessen wird, auch am ersten Tag als ein Eigenthum zehlbar währe und um welchen Preis. (...) Auch müs man wissen, zu welcher Zeit hier die Abreisse wehre, und was fir Sachen man mit nemen mus, haubt sechlich was fir In­streumenter.

Um dem Agenturwesen entgegenzutreten, erliess die Bundesregierung im Jahr 1880 das Auswanderungsgesetz.1 Es fusste auf der revidierten Bundesverfassung von 1874. Die Beschäftigung von Unteragenten bedurfte ab diesem Zeitpunkt der Bestätigung durch das Auswanderungsamt. In der Folge reduzierte sich die Zahl nicht nur der Unteragenten, sondern auch die der Agenturen.

Was übrigens den oben von Franz Hauser angesprochenen Eigentumstitel für das dargemessene Stück Land betrifft, so erhielten die Siedler diesen, sobald sie die Kosten für die vom Staat geleistete Hilfe (Nahrungsmittel, Abgabe von Vieh und dgl.) zurückbezahlt hatten. Das dauerte meiste einige wenige Jahre.

Die Reisekosten nach Argentinien betrugen um 1860 für Erwachsene 360 Franken und für Kinder je nach Alter zwischen 180 und 260 Franken. Für eine Familie mit zehn Kindern waren das für Reise und Landkauf Ausgaben in der Höhe von 4'500 Franken. (Welchen heutigen Beträgen diese Summe entspricht, wird man später im Brief von Johannes Bodenmann an den von ihm aufgelisteten Preisen für Nahrungsmittel, Nutztiere etc. ermessen können.) Das zeigt zum einen, dass die Auswanderer einiges an Geldmitteln aufbringen mussten, zum andern, dass sie im Falle eines Scheiterns den Verlust ihres ganzen Kapitals riskierten, zu dem sie durch den Verkauf des Betriebs (Grundstücke, Gebäude, Vieh) gekommen waren.

Die überwiegende Zahl der Eigranten gehörte zur bäuerlichen Mittelschicht. Erst später befanden sich unter ihnen auch Knechte und Mägde, die mit Mühe und Not das Reisegeld zusammengespart oder von Verwandten geliehen bekamen. In der Regel kamen Leute aus der Unterschicht auch in den Zielländern über den bisherigen sozialen Status nicht hinaus. Bei inzwischen erfolgreichen Kolonisten verdingten sie sich als Landarbeiter, Melker oder Dienstmägde.

Güterversteigerungen wurden gelegentlich im Amtsblatt angezeigt. So liessen Franz Marty und Josef Maria Oggier wegen Aus­wanderung nach Amerika am 6. Oktober 1872 im Gemeindehaus von Varen ihre Ge­mach­rechte und Hausenschaft, Wiesen, Ackerland und Reben, nebst Viehstand und Früch­ten um billigen Preis versteigern.

Wenn sich Güter als unverkäuflich erwiesen, z.B. in Gebieten mit grosser Trockenheit, konnte dies die Auswanderung verhindern. Im Kontext der schon angesprochenen Antipropaganda durch Behörden und Presse verwundert es nicht, dass ein Korrespondent im Januar 1868 vorschlug, in Gemeinden, wo der Auswanderungsgeist so sehr einge­rissen habe*,* sei *den Behörden anzu­rathen, die Bevölkerung zu bestim­men, von den Auswanderern gar nichts abzu­kaufen, wodurch Mancher am Auswandern verhindert würde und die Zurückblei­ben­den sich nicht in Schulden steckten*.

Der Güterverkauf eines Auswanderungswilligen in Selkingen nahm der Gemeindepräsident zum Anlass, beim Staatsrat ein Gutachten einzuholen über die Frage, ob man den auswanderungslustigen Familien ihr ganzes Vermögen verkau­fen zu lassen gestatten müsse, und [ob] man den sämtlichen Verkaufserlös sogleich müsse verabfolgen und mitnehmen lassen. Der Staatsrat antwortete, amtlich einzuschreiten habe er keine Befugnis. Zwar wäre es von allgemeinem Interesse, wenn die vollziehende Gewalt bei diesem oder einem ähnlichen Sachverhalt einschreiten könnte, aber es liegt kein Verfassungs- oder Rathsbestimmung vor, die dazu befähi­gen könnte.


  1. Bereits 1856 hatte ein kantonaler Beschluss versucht, die Leute von «unüberlegten Entschlüssen» zu bewahren. Darin wurde bestimmt, dass Einzelpersonen ohne Agenturvertrag 800 und Familien 1200 Franken nachzuweisen hatten. ↩︎