Auswanderung

5. Juni 2021

Regina, das erste Kind, kam am 26. September 1889 zur Welt, neun Monate und ein paar Tage nach der Hochzeit. Das habe das Eis vom Vater schmelzen lassen, worauf man mit ihm wieder gut sprechen konnte. Auch die Mutter war von da an wie ein umgekehrter Sack, und es klappte wieder in alter Harmonie.

Maria Josepha stand nun dem Haushalt vor, war Mutter und Krämerin, ihr Mann Schreiner, Holzhändler und ebenfalls Krämer.

Hier sei noch auf eine Eigentümlichkeit in Thelers «Lebens Erinnerung» hingewiesen. Der Schreiber berichtet, wie schon festgestellt, detailreich das Zustandekommen der Beziehung zwischen ihm und Maria Josepha Salzgeber und wie heftig der daraus entstandene Streit hauptsächlich mit dem Vater ausgetragen wurde. In der breit angelegten Erzählsequenz kommen die Wörter ‘Liebe’ bzw. ‘lieben’ nicht vor. Das ist zweifellos zur Hauptsache der Zeit und der kleinbürgerlich-bäuerlichen Sozialisierung zuzuschreiben. Die Ehefrau von damals war üblicherweise Haushälterin und Gebärerin, keine Geliebte. Gleichwohl fällt auf, dass der junge Mann sich gegenüber den rabiaten Eltern anscheinend nie mit dem Argument rechtfertigte, er und Marjosi wollten heiraten, weil sie einander zugetan seien. Bei der Lektüre entsteht manchmal der Eindruck, die Antriebskraft des jungen Hanschristi sei vor allem vom Bestreben gespeist worden, aus dem Streit als Sieger hervorzugehen. Sobald sie nun verheiratet waren, verschwindet die Ehefrau von wenigen Ausnahmen abgesehen (davon wird noch die Rede sein) aus der Erzählung. Selbst als Nebenfigur findet sie kaum noch Erwähnung. Eigentlich kommt sie nur noch im Kontext der 14 Geburten vor. Auch wer erwartet, dass das gemeinschaftliche ‘wir’ nun häufig an die Stelle des ‘ich’ treten werde, sieht sich getäuscht. Innerhalb seiner Familie verhielt sich Johann Christian Theler ebenso dominant, wie sein Vater es ihm vorgelebt hatte. An den eingeübten Rollenmustern änderte sich nichts. Umso aufmerksamer liest man jene Stellen, wo die Frau aus das Mannes Schatten tritt. (Auch dazu später mehr.)

Zu den Geburten noch dies: Maria Josepha Theler-Salzgeber war zwischen September 1888 und Januar 1914 14mal schwanger, innerhalb eines Vierteljahrhunderts also insgesamt zehneinhalb Jahre lang. 21-jährig wurde sie es zum ersten Mal, mit 46 zum letzten Mal Die Zeitspanne zwischen einer Geburt und dem Anfang der nächsten Schwangerschaft betrug im Schnitt ein Jahr und zwei Monate.

Wir wurstelten so jahrelang. Für einmal doch mit «wir» leitet der Erzähler jene Phase des gemeinsamen Erwerbslebens ein, in der es zur Zäsur kam, zur Auswanderung nach Argentinien. Obwohl die junge Familie mit dem Dorfladen, der handwerklichen Tätigkeit und dem Holzhandel über drei finanzielle Standbeine verfügte, wurde sie die Geldsorgen nicht los. Wegen der kaufschwachen Kundschaft warf der Laden wenig ab, ja, sie machten mit ihm manchmal sogar Verluste, so dass mit den Einkünften aus Handwerk und Holzhandel, statt damit den Unterhalt der Familie zu sichern, das entstandene Defizit ausgeglichen werden musste. Das sei dann doch zu viel verlangt gewesen, schreibt Theler in der Rückschau. Immerhin habe es mit dem Betreibungsamt noch keinen Kontakt gegeben, aber die Furcht, dass es doch zu dieser Unliebsamkeit kommen würde, habe ihn umgetrieben.

Im Sommer 1892 besuchten fünf nach Argentinien ausgewanderte Walliser ihren Heimatkanton. Sie besuchten auch die Familie Theler-Salzgeber in St. German, denn einer war mit Thelers Frau, ein zweiter mit Theler selbst verwandt. Sie überbrachten einen Brief eines Onkels von Maria Josepha. Darin stand als Hauptbotschaft: Kommt mit dieser Reisegelegenheit nach hier zu uns, Coloni St. Geronimo Argentina.1

Theler schreibt dazu:

Alle 5 Herren bestätigten uns alles, was in diesem Brief enthalten war, und gaben obendrein auch ihren Senf dazu. Gleich entschlossen, willigte ich ein, nach Amerika zu reisen. Die Frau war nicht einverstanden, verlangte Vorbehalt, aber ich Hartkopf gab nicht nach. Es ist August, die 5 Herren reisten ab. Wir waren noch nicht bereit. Ich musste doch zuerst in meinem Soll und Haben gerecht werden. Das ging bis am 12. Wintermonat 1892, dass wir abreisen konnten mit 6 weiteren Familien aus dem Vispertal.

Hier kommt erneut ein Thelersches Wesensmerkmal zum Vorschein, seine Art, etwas Hals über Kopf zu entscheiden. «Gleich entschlossen» war er, das heisst, er räumte sich kaum Zeit fürs Reflektieren ein, geschweige denn, dass er und seine Ehefrau gemeinsam zu einem Entscheid gekommen wären. Auch wenn er sich im Rückblick Hartkopf nennt, spricht daraus kaum Selbstkritik. Im Unterschied zu ihm reagierte Maria Josepha vernünftig, wenn sie Vorbehalte anmeldete. Eine Auslegeordnung, ein Abwägen von Für und Wider scheint jedoch nicht stattgefunden zu haben. Und wenn doch, so entschied Johann Christian Theler schliesslich gleichwohl eigenmächtig.

Darüber, was in den verbleibenden vier Monaten vorzubereiten war, erfahren wir nicht mehr, als was oben zitiert ist. Den Haushalt aufzulösen und alles Notwendige für die Überfahrt bereitzustellen, dürfte Marjosis Aufgabe gewesen sein. Sie war für die Erfüllung familiärer Bedürfnisse zuständig.

Allein die Vorbereitungen, um mit drei Kindern, das älteste dreijährig, das jüngste neun Monate alt, eine Schiffsreise nach Argentinien anzutreten, müssen die wiederum Schwangere aufs Äusserste gefordert haben. Davon steht kein Wort in Thelers Text; er schreibt bloss, der Abschied sei hart gewesen. Einige Dorfbewohner versuchten anscheinend, die junge Familie von ihrem Entschluss abzubringen. Sie wollten uns nicht nach Amerika verreisen lassen.


  1. Gemeint ist das heutige San Jerónimo Norte, der Ort, der 1858 von den ersten Walliser Auswanderern unter der Leitung der beiden Brüder Bodenmann aus Grengiols gegründet wurde. Im August 1857 in Santa Fe angekommen, traf Lorenz Bodenmann mit Ricardo Forster zusammen, einem in santafesinischen Diensten stehenden Engländer und Mitglied der Kommission für freiwillige Einwanderung. Forster stellte Bodenmann in einem Randgebiet – etwa 40 km westlich der Stadt Santa Fe – ein Territorium zur Verfügung, das er der Provinzialregie­rung im Tausch gegen andere Ländereien überlassen hatte. [Quelle: Klaus Anderegg.] ↩︎