Erste Erfahrungen

6. Juni 2021

Am frühen Morgen erreichte der Zug die 300 km entfernte Stadt Rosario.1 Zum ersten Mal sahen die Walliser die auf allen Seiten unendlich weiten, nahezu baumlosen Ebenen mit nur hin und wieder niedrigen Häusern. Strecken mit grossen Vieherden wechselten ab mit abgeernteten Weizenfeldern. Theler wunderte sich, frisch geerntetes Getreide ungeschützt auf Schochen (kleinen Haufen) liegen zu sehen. Wo gerade gedroschen wurde, sahen sie rauchende Dampfmaschinen. Seinen Erinnerungen zufolge hinterliessen die weiten Ebenen bei einigen einen zwiespältigen Eindruck. Jedenfalls schreibt er: Wir haben jetzt unsre schöne Schweiz vertauscht an dieses Landschaftsbild. Daran mussten sich alle zuerst gewöhnen. Als sie schliesslich Rafaela erreichten und in einer Fonda (Gasthaus) essen wollten, verging ihnen, trotzdem sie hungrig waren, der Appetit. So viele Fliegen bedeckten die dampfenden Schüsseln, wie sie es selbst in Visp nie gesehen hätten.

In Rosario hiess es Abschied nehmen, denn jede Familie und jede Einzelperson begab sich nun in eine je andere Kolonie. Vielleicht bloss für einen Zwischenhalt, vielleicht um wirklich anzukommen. Das Ziel der Familie Theler war das Anwesen des Onkels von Maria Josepha, jenes Mannes, dessen Brief in St. German zum Auslöser der Auswanderung geworden war. Sie fuhren mit dem Zug zum südöstlich von Rafaela gelegenen Ort Pilar. Von da sollte sie ein Bekannter mit Namen Bosch, er stammte aus Raron, mit einem Fuhrwerk zu Onkel Anton fahren.2 Bei Bosch seien sie nicht nur gut aufgenommen worden, sondern hätten auch endlich mit bester Lust essen können. Bei Dunkelheit erreichten sie schliesslich das Anwesen des Onkels in Santa Maria. Auf ihn setzten sie grosse Hoffnungen.

Es war Mitte Januar; das hiess Hochsommer auf der Südhalbkugel. Wenn sie in der ersten Nacht kaum Schlaf fanden, lag das allerdings weniger an der hohen Temperatur als vielmehr an den störenden Bettbewohnern. Der Onkel reagierte am Morgen lachend auf die Irritation der Gäste: Daran würden sie sich rasch gewöhnen; im Sommer könne man fast nicht «flohfrei» werden. Die nächtliche Störung erwies sich schon bald als bedeutungslos im Vergleich zu dem, was sie kurz nach der Ankunft erleben mussten: Nur 5 Tage hatten wir das Glück, den lieben Onkel Anton um uns zu haben, und schon kam der unbarmherzige Schnitter Tod und riss uns den lieben Onkel durch einen Schlaganfall weg. Gerade noch hatte dieser die noch immer kränkelnden Kinder erfolgreich in seine gute Quacksalber-Behandlung genommen, und nun stand die Familie ohne Ratgeber und Helfer da.

Hilfe nahte dann in der Person des Johann Joseph, Bruders des Verstorbenen, anlässlich der Beerdigung. Dieser war Ackerbauer und Viehzüchter im 45 km nördlich gelegenen Hipatía. Er bot ihnen Arbeit und Brot an. Das klang verheissungsvoll, zumal der Mann als reich galt. Er besass 660 Hektaren Land, wohnte in einem stattlichen Haus und verfügte ausserdem über eine beachtliche technische Infrastruktur (incl. Schmiede und Dampfmaschinen). Er selbst geizte nicht mit Eigenlob, nannte eine Herde von 800 Rindern sein Eigen, darüber hinaus gehörten ihm eine grosse Zahl von Pferden und zahllose weitere Tiere. Ausserdem prahlte er mit seinen 50'000 Pesos auf der Bank.3 In der Tat, ein reicher Onkel. Dem durften wir uns anvertrauen, resümiert Theler. Wie ähnlich oder unähnlich sein Charakter im Vergleich zu dem seines Bruders war, sollte sich bald zeigen. Vier Monate blieben sie bei ihm. An Arbeit mangelte es nicht. Die im 6. Monate schwangere Frau Theler wusch für die Familie ihres Onkels, half in der Küche mit, flickte und strickte und machte ausserdem den Haushalt für die eigene Familie. Ihr Mann arbeitete vom ersten Tag an als Schreiner, musste morgens und abends ausserdem 20 Kühe melken und half in der Schmiede. Er und Maria Josepha wurden über das erträgliche Mass hinaus mit Arbeit belastet. Bei Theler meldete sich als späte Folge einer Fussverletzung ein rheumatisches Leiden. Ausserdem quoll aus der aufgeplatzten Schwellung des Fussgelenks blutiger Eiter, was ihn für zehn Tage ins Bett zwang. Der Bauern hatte dafür kein Verständnis; er bezeichnete seinen Angestellten als Faulenzer. Als die Hochschwangere auch noch als Wäscherin ausfiel, reagierte er aggressiv. Er qualifizierte die Thelers als Fressbande. Dem Mann warf vor, weder könne er mit dem Ross Wasser ziehen4, noch sei er fähig, mit vier Ochsen zu pflügen. Sobald die Geburt vorüber sei, sollten sie dorthin verschwinden, wo sie herkämen.5

Im Originalton (gemäss Theler): Macht, dass ihr fortkommt, woher ihr gekommen seid, denn solche Faulenzer und Fressbande können wir nicht brauchen. Ihr fresst uns noch auf.

Am 18. April gebar Frau Theler ein Mädchen, Veronika. Kaum hatte sie sich einigermassen erholt, kehrte die Familie nach Santa Maria zurück, wo ihnen die Tochter des verstorbenen Onkels dessen leerstehendes Haus zum Wohnen überliess. Weil die Wöchnerin Pflege brauchte und fürs Neugeborene einiges anzuschaffen war, schmolz die Barschaft rasch dahin. Es hiess nun, sich auf eigene Faust durchzukämpfen. Theler wollte als Schreiner arbeiten. Die Kolonisten hatten einigen Bedarf an Möbeln, so dass es genug Aufträge gab. Holz konnte er in Esperanza kaufen. Dorthin nahm ihn Onkel Peter, ein weiterer Bruder des Verstorbenen, mit. So viel, wie das eingekaufte Holz kostete, hatte Theler nicht im Geldbeutel. Er bat den Händler, ihm den Restbetrag zu stunden. Wie ehemals der Lebensmittelhändler in Sitten verlangte der Holzverkäufer einen Bürgen. Onkel Peter entfernte sich, tat ihm den Gefallen nicht. Ein zufällig Anwesender wurde Zeuge der Szene. In ihm fand Theler einen Fürsprecher, wie er ihn in Sitten in Staatsrat Leo von Roten gefunden hatte. Aloys Bosch, so der Name des Mannes, wurde neugierig auf den jungen Mann. Er fragte ihn nach dem Verwendungszweck des Holzes. Einen Küche[n]schrank mit Ober- und Unterteil, je 2 Türen und verschiedene Schubladen, wolle er schreinern, antwortete dieser. Bosch erfuhr auch, wie es Theler und seiner Familie bisher ergangen war. An den Händler sich wendend, sprach er so laut, dass es auch der Onkel verstehen konnte: Wir lassen den Peter Peter sein und können so einen jungen Mann, der arbeiten will, nicht derart behandeln – und liess sich die Restschuld in sein Büchlein schreiben. Mit der unerwarteten Bürgschaft war auch die Kreditwürdigkeit des jungen Handwerkers hergestellt, so dass er nun die die Arbeit an der Hobelbank aufnehmen konnte.

Trotz guter Auftragslage blieben die Einkünfte bescheiden. Man kam nur knapp über die Runden. Als sich ein weiteres Kind ankündigte, wurde die Frage dringender, ob man mit der Ein-Mann-Schreinerei den Lebensunterhalt der Familie längerfristig würde sichern können. Johann Christian Theler trug sich wohl von Anfang mit dem Gedanken, in Argentinien Colonist zu werden. Es jetzt in die Tat umzusetzen, schien möglich, denn der Walliser Landsmann Paul Michlig versprach, ihm ein Stück Land zur Pacht abzutreten. Die Cousine jedoch, die ihnen das Haus ihres verstorbenen Vaters überlassen hatte, hintertrieb Michligs Entgegenkommen. Theler erzählt, sie sei unverzüglich zu Michlig gegangen und habe ihn derart eingeseift, dass er sein Versprechen zurücknahm. (Gründe für das Verhalten der Cousine werden nicht genannt.)

Ein Mann namens Franz Gasser aus der benachbarten Kolonie brachte ihn auf einen neuen Gedanken. Da er im Wallis auch als Krämer gearbeitet habe, solle er doch diesem Gewerbe hier ebenfalls nachgehen. Die Kreuzung zweier Hauptstrassen in San Jerónimo Norte sei der ideale Platz für eine Politscha (ein Wirtshaus mit Magazin). Das Land gehöre ihm, und er werde ihm auch die ofengebrannten Ziegel überlassen. Fürs notwendige Kapital solle er sich an den reichen Onkel in Hipatía wenden. Der gibt dir gewiss, sonst bürge ich dir dafür. Dort erwartete Theler ein Tonnerwetter für ein solches unverschämtes Begehren, so dass er unverrichteter Dinge nach Santa Maria zurückkehrte. Abermals sei nun ein schöner Traum ins Wasser gefallen.

Im Rückblick vergisst Theler nicht zu erwähnen, dass Vinzenz Tschieder wenig später auf ebendiesem Platz eine Politscha gebaut und in 15 Jahren ein reicher Mann geworden sei. Über die Geschichte von Vicente Tschieder wissen wir einiges.

Vicente Tschieder war 1874 mit Eltern und Geschwistern aus dem Wallis nach Argentinien. Von seiner Familie ist mir zum jetzigen Zeitpunkt nichts weiter bekannt. Erhalten geblieben sind 47 Briefe aus den Jahren 1923 bis 1939. Alle waren sie an einen Johann Tschieder gerichtet, der in Brig oder einem Nachbarort wohnte und während der sommerlichen Touristensaison in einem Hotel auf dem Simplon arbeitete.

Aus einem Brief erfährt man, dass damals in Argentinien 55 Personen mit Namen Tschieder lebten, im Wallis das Geschlecht aber am Aussterben war. (Der Adressat solle dafür sorgen, dass das nicht geschehe.) Das lässt den Schluss zu, dass Vicente Tschieder einige Brüder hatte und/oder dass viele Walliser dieses Namens nach Argentinien auswanderten.

Tschieder führte im Zentrum von San Jerónimo (in der Folge mit SJ abgekürzt), höchstwahrscheinlich an dem Platz, den Gasser an Theler abtreten wollte, ein Ladengeschäft. Einiges von dem, was er im Angebot hatte, bezog er aus der Schweiz, v.a. aus Brig. Die Korrespondenz mit seinem Verwandten – in der Regel schrieb er ihm dreimal jährlich – drehte sich denn zur Hauptsache um diese Waren und die Bezahlung derselben. Es handelte sich zum einen um Gesundheitspräparate wie «Gichtosint-Tabletten», die Tschieder vom Briger Apotheker Marti bezog. (Als Asthmatiker war er mit Präparaten dieser Art vertraut.) Zum andern organisierte er für seine Landleute Zeitungs-Abonnemente, z.B. den «Walliser Boten», sowie Kalender aller Art (etwa den von Pfarrer-Künzli) und dergleichen mehr. Bei der Firma Niederöst in Schwyz bestellte er regelmässig sog. «Todesandenken». Bezahlt wurden die Rechnungen von Johann Tschieder, der die Vollmacht über ein Bankkonto des Vicente Tschieder auf einer Briger Bank besass.

Obwohl als Kleinkind nach Argentinien gekommen, kannte sich Vicente Tschieder im Wallis gut aus. Das Wissen hatte er von einem längeren Aufenthalt dort im Jahr 1923. Er war nicht nur als Besucher da, sondern arbeitete im Wallis. Möglicherweise hielt er sich mehr als einmal in die Schweiz auf.

Dass er mit seinem Geschäft reich wurde, wie Theler schreibt, lässt sich anhand der Briefe nicht beurteilen. Zweifellos besass er Vermögen. Er verfügte über europäische Wertschriften und war Mitbesitzer einer Immobilie in Innsbruck. Transaktionen aller Art waren regelmässig Gegenstand der Aufträge an den Verwandten.

Tschieder verkaufte auch Wein; öfters ist von «Gold-Malaga» die Rede, der von den Kunden ebenfalls aus gesundheitlichen Gründen gekauft wurde. Auch mit Honig scheint er gute Geschäfte gemacht zu haben. (Eine interessante Preisangabe: Ein 27-kg-Kessel Honig kostete bei ihm umgerechnet 16 Franken.)

Vicente Tschieders Schreibkompetenz war deutlich eingeschränkter als die von Johann Theler. Das erklärt sich daraus, dass er im Unterschied zu diesem über keine Schweizer Schulbildung verfügte, die deutsche Sprache sich also hauptsächlich übers Mündliche angeeignet hatte. Erstaunlich ist deshalb, dass er gemäss eigener Angabe in den 1920er- und 1930er-Jahren zu den wenigen Leuten In SJ gehörte, die deutsch schreiben konnten. Tschieder war denn auch eine Art Sekretär für Emigranten oder deren Nachkommen, wenn es galt, im Wallis finanzielle Angelegenheiten, besonders im Zusammenhang mit Erbangelegenheiten, zu regeln. Öfters schickte er Vollmachten an Walliser Advokaten, damit sie Erbanteile einforderten und das Geld nach Argentinien überwiesen. Eines dieser Anwaltsbüros gehörte den beiden Juristen Kluser und Escher. Joseph Escher war auch Nationalrat und von 1950 bis zu seinem Tod 1954 Bundesrat. Das Büro der beiden wird in den Briefen mehrmals zum Thema, und zwar im negativen Sinn. So sollte Escher im Zusammenhang mit einem Grundstücksverkauf für eine in SJ lebende Klientin Tschieders das Inkasso betreiben. Er besass entsprechende Vollmacht, blieb jedoch untätig, ja, er beantwortet nicht einmal Tschieders Briefe. Ob es daran lag, dass Escher mit dem Schuldner verwandt war, wie der Schreiber mutmasste, lässt sich nicht beurteilen.

Die 16 Jahre dauernde Korrespondenz Tschieders mit seinem Verwandten und Namensvetter vermittelt auch Einblicke in die ökonomischen und politischen Zustände Argentiniens sowie über das Auf und Ab, was die Ernteerträge beziehungsweise die finanzielle Lage der Kolonisten betraf. Dass wegen Hitzeperioden, anhaltender Trockenheit oder Heuschreckenplagen die Ernten vernichtet wurden, Vieh verendete und 1937 sich gar die menschliche Sterberate erhöhte, wird in den Briefen ebenso thematisiert wie das Konsumverhalten wohlhabender Kolonisten. Im April 1939 zum Beispiel äussert er sich kritisch über den Luxuskonsum in SJ. Es gebe dort 438 Autos auf 3000 Einwohner. Dabei koste ein Auto bis zu 8000 Pesos. Wenige Jahre zuvor berichtet er dagegen von Bauern, die wegen tiefer Agrarpreise und mieser Ernten in den Ruin getrieben würden, so dass sie ihr Hab und Gut für einen Schundpreis verkaufen müssten (1935). Das erlaubte im Übrigen finanzkräftigeren Grundbesitzern, ihr Land zu vergrössern. Ursprünglich umfassten die zugeteilten Parzellen etwa 33 Hektaren.

Längere Zeiträume überblickend, meinte Tschieder jedoch, die Lebensumstände in SJ seien besser als im Wallis; viele Leute würden hier um Jahre älter als ihre Verwandten in der Schweiz. Er berichtet von Menschen über 85, einmal von einem Ehepaar, die beide nahezu 95-jährig waren. Eher singulär dürfte dagegen die Geschichte des über 70-jährigen Christian Gentinetta sein, der ins Wallis zurückkehrte, um dort als Schuhmacher zu arbeiten.

Die Aussage Thelers über den angeblich reich gewordenen Krämer Vicente Tschieder werden durch das oben Ausgeführte weder bestätigt noch widerlegt. Interessant ist, dass Theler seine Erinnerungen 1938/39 zu Papier brachte, zur gleichen Zeit, als Tschieder die letzten Briefe von San Jerónimo aus ins Wallis schickte. Wenn Thelers Angaben stimmen, dann betrieb Vicente Tschieder während vier Jahrzehnten am erwähnten Platz in SJ, 300 Meter von der Kirche entfernt, einen Kramladen. Ob er das ohne Unterbruch tat, ist ungewiss. Wenig wahrscheinlich ist, dass das Geschäft mit einem Wirtshaus gekoppelt war. In den Briefen ist davon nie die Rede. Man müsste auch in Erfahrung bringen, wer den Laden führte und ob das überhaupt jemand machte, als Tschieder im Wallis weilte und dort arbeitete. In keinem der 47 Briefe gewährt der Schreiber einen Blick in die Zeit vor 1923.

Wieder zurück zur Geschichte des Johann Christian Theler und seiner Familie:


  1. Mit nahezu einer Million Einwohner ist Rosario heute die drittgrösste Stadt Argentiniens. Das bedeutende Industriezentrum liegt am westlichen Ufer des Rio Paraná. ↩︎

  2. Dass in so vielen santafesinischen Kolonien ehemalige Oberwalliser leben, zeugt von der grossen Zahl der Auswanderer nach Argentinien nach 1857. ↩︎

  3. Das entsprach einem Barvermögen von 100'000 Franken. ↩︎

  4. Das Wasser musste aus Sodbrunnen heraufgeschafft werden. Wie gross der Bedarf allein für die Viehherde war, lässt sich leicht ausrechnen. Jedenfalls war die Arbeit mittels menschlicher Muskelkraft nicht zu schaffen. ↩︎

  5. Dass Auswanderer wie dieser Onkel innerhalb von höchstens drei Jahrzehnten zu Reichtum gelangten, war die Ausnahme. Von einzelnen von der besonders Erfolgreichen weiss man in groben Zügen, wie sie in den Besitz grosser Güter gelangten. Zum einen fanden sie sich rascher als andere in der neuen Umgebung zurecht, zum andern erwarben sie auch das Land gescheiterter Kolonisten (die dann in der Regel als billige Arbeitskräfte dienten) und konnten so die Viehherden vergrössern und den Getreideanbau mechanisiert betreiben. Kaum einer von ihnen stach im Übrigen durch besondere Grosszügigkeit hervor. ↩︎