Rückwanderung?

6. Juni 2021

Ungeachtet der sich erfreulich entwickelnden Viehzucht wurmte es Theler, dass unmittelbar nach seinem Verzicht auf weiteren Getreideanbau gute Erntejahre folgten:

Die 2 Jahre, 1908 und 1909, gab es ausserordentliche Weizen- und Lainernten, nebst einem ordentlichen Preis. [In] diesen Glücksjahren hatte ich das Nachsehen. Nur wenigen Colonisten, die mit Einsäen von Weizen und Lain beharrlich waren, hatten diesen Erntesegen einheimsen können. Da bin ich wirklich einem grossen Glück ausgewichen. So sieht man wieder, was zum Glück führt: ausdauernde Beharrlichkeit.

Die Einkünfte aus der Milchverarbeitung und der Viehhaltung überhaupt entwickelten sich jedoch nach wie vor erfreulich. Spätestens ab 1908 verkästen sie den grösseren Teil der Milch. Es findet sich im Kalender über die Jahre zwar bloss ein Eintrag, nämlich dass er aus der Morgenmilch 21 kg Käse und aus der Buttermilch weitere 6 kg gewonnen habe1. In den Nachträgen von 1910 hält er dann fest, welche Menge Käse, Butter und Produkte der Viehwirtschaft überhaupt sie in den letzten beiden Jahren produziert und verkauft hatten, nämlich im Jahr 1908 insgesamt 4898 kg Käse für 2630 Pesos und Butter für 36 Pesos. Im Folgejahr betrug der Erlös für Käse und Butter 2510.65 Pesos, für Vieh, Leder und anderes 3282.75 Pesos. (Die Einnahmen werden wiederum auf den Centavo genau notiert!) Die Zahlen beweisen, dass sie mit der Viehzucht bessere und v.a. konstantere Einkünfte erzielten als mit dem Ackerbau.

Theler versuchte wo immer möglich die Ausgaben zu senken, besonders wenn sich das via Selbsthilfe tun liess. So bei der Instandhaltung der Pflüge. Diese waren meistens schon nach einem Tag stumpf, so dass sie zum Schärfen in die Schmiede mussten.

Durch meinen Zahlungskampf [...] musste ich oftmals lange warten, bis meine Pflugscharen gespitzt wurden. So lernte mich hier die Not, selbst Hand anzulegen. Glücklicherweise hatten wir einen guten Gevattermann [Taufpate], Williner. Der kaufte für mich einen Amboss, Schraubstock, Schmiedzeug, Esse, eine Zange, etwas Stahl, Eisen und einen Sack Kohle. Blasebalg fertigte ich mir selbst an. Mit diesem Werkzeug richtete ich mir eine Schmiede ein, unter freiem Himmel auf der Nordseite der Küchenmauer.

So, wie ich gesehen, wie der Schmied die Pflugscharen schärft und härtet, so heizten und hämmerte ich es nach, und mit der Zeit brachte ich es so weit, dass unser Nachbar Lagger auch seine Pflugscharen mir anvertraute. Dies bemerkte der Schmied und machte sofort Anzeige. Anderntags kam der Comisario und gab mir zu verstehen: Du darfst nicht schmieden ohne Padel2, sonst muss ich dich strafen. In meiner Verdutztheit: Siehe doch meine Schmiede an, unter brennender Sonne oder Regen. Comisario: Das ist gleich; du darfst das einfach nicht. Wie viel kostet denn das Paidelo? 5 Pesos. O, denn, wenn das nicht mehr kostet, dann fahre ich in kurzen Tagen nach San Cristobal und hole mir das Padel. Comisario: Buono esta bien. Von da an holte ich 6 Jahre hintereinander dies Padel und machte meine Hauptbeschäftigung in der Schmiede, machte aller Art Flickarbeiten, auch neue Eggen, Beschläge und Ketten. Das Schmieden unter geräumigem Schuppen, den ich bald aufgestellt hatte mit weiteren Rasenziegeln, gings recht ordentlich zu, bis ich mir 2 ordentliche Verletzungen zuzog, wodurch ich dann die Schmiede verkaufte.

Als die besser situierten Kolonisten Häuser aus Ziegelsteinen zu bauen begannen, wollte Theler nicht hintanstehen. Gemeinsam mit dem Knecht traf er Vorbereitungen, selber Ziegel zu giessen und zu brennen. Ihr Wissen hatten beide nur vom Hörensagen. Bei der Fertigung war jedoch fachmännisches Wissen gefragt. Anschauungsunterricht sollte ein Giessmeister geben. Als der zum vereinbarten Zeitpunkt nicht eintraf, versuchten sie einiges Know-how über die Versuch und Irrtum-Methode zu gewinnen. Die ersten Probierstücke gerieten nicht nach Wunsch. Zum Glück hatten wir im ersten halben Tag nicht so viel angefertigt. Am folgenden Tag kam der erwünschte Giessmeister, und ab jetzt klappte es in doppeltem Guraschi. Nachdem zirka 40'000 [?] Steine gebrannt waren, fingen wir gleich an, das erste Haus [zu] bauen mit Zuzug eines Maurermeisters. Später machten wir wieder einen Ofen Steine, diesmal mit Zuzug und Hülfe unserer Tochter Matilde. Auch die weiteren Bauten in Ziegelstein meisterte ich selbst.

Und dann dies: Am 1. Januar 1910 wurde in Gegenwart zweier Zeugen ein Vertrag unterzeichnet, der die Pachtbedingungen für das Land festlegte: 2500 Pesos Jahreszins, zu entrichten jeweils Anfang Jahr an einen Gewährsmann.3 Die Thelers wollten Argentinien verlassen!

Wie kam es zum Entscheid, in die Schweiz zurückzukehren? Angesichts der inzwischen vielversprechenden ökonomischen Basis wirft der Entschluss Fragen auf. Umso mehr, als Hanschristi und Marjosi Theler-Salzgeber seit einem oder zwei Jahren im Besitz von 200 ha Land waren, von Land, das sie ordentlich ertragreich gemacht hatten.

In den «Erinnerungen» liest sich das so:

Es kam das Jahr 1910. In diesem mein unwiderruflicher Entschluss, mit Kind und Kegel nach Europa [zurückzukehren]. Sämtliche Colonisten konnten das fast nicht glauben. Jeder sagte: Dein Land in dem schönen Zustand, der schöne Viehstand und deine guten Beziehungen willst auf einmal im Stich lassen und davonlaufen? Was fällt dir ein u.d.g. Meine Antwort: Jetzt haben wir 12 Kinder4, alle geistig und körperlich gesund und gut entwickelt. Diese Kinder sind mir lieber als das Land und [das] Vieh. Den Kindern gebe ich jetzt europäische Zucht. Da haben sie eine gute Schulbildung, was gegenwärtig Ambrosetti nicht hat, da auch keine bessere Aussicht vorhanden ist. Weiters ist der Lötschberg in Angriff. Der bietet uns Arbeitsgelegenheit, so meine Brüder uns schreiben. Kurz, ich liess mich durch nichts abhalten [!], verkaufte sämtlichen Viehstand, Werkzeuge und Maschinen. Das Land hatte ich vermietet, und wir fuhren ab. Der Restviehstand, den ich in einem Zug verkaufte, Pferde und Rindvieh, vom kleinsten bis zum grössten zu 30 Pesos pro Kopf, waren 320 Stück. (So hatte sich das erste verschenkte Schaf doch noch gut gemacht.) Wir haben in der Zeit ziemlich viel Vieh verloren, aber dennoch eine schöne Tropa zusammengebracht. Gott sei Dank.

Im Vergleich dazu der Kalendereintrag von Mitte November 1909: Erstmals mein Land schriftlich offeriert zu verkaufen. Die Konzession zu Pesos 6000. Dem Land suchenden Jose Theler [am 5.] Dezember verkauft 109 zahme Milchkühe / 41 junge Kälber / 38 grosse Novillos / 89 halbgewachsenes Vich / 7 Pferde / 7 Stuten / 2 Potrillos [Fohlen] / [insgesamt] 293 [Tiere]5. Alles durcheinander der Kopf zu Pesos 30, gleich 8790 /.

Frühere Einträge zeigen, dass die Rückwanderung kein aus dem Augenblick heraus getroffener Entscheid war. Es gibt im Kalender auch eine Brief-Rubrik. Dort führte Theler sozusagen Buch darüber, wann und wem er Briefe schickte und wann er Antworten bekam. Die Hauptadressaten waren die Eltern, die Brüder, die Schwiegereltern und zwei Onkel. Zumeist ist stichwortartig auch das Hauptthema des jeweiligen Briefes festgehalten. Ein paarmal überwies er gleichzeitig mit dem Brief per Giro Geld ins Wallis. So 1906 tausend Franken an den Vater (ohne Angabe des Zwecks)6. Ab 1907 finden sich Hinweise auf eine ins Auge gefasste Rückkehr. Der erste Eintrag dieser Art lautet, die Familie werde die Kolonie verlassen, wenn es in fünf Jahren in Ambrosetti keine Kirche mit einem ständigen Seelsorger gebe. Im Jahr drauf schreibt er seinem Bruder Paul, es gebe ein Wiedersehen binnent zweier Jahre mit drei bis vier jüngeren Kindern, weil er ihnen Schule nach Walliserart ermöglichen wolle. Oder aber, er kehre in zwei bis drei Jahren mit der ganzen Familie ins Wallis zurück. Schliesslich erfolgte die Rückkehr früher als geplant; noch im Jahr 1909 notiert er in einer Briefparaphrase auf Wiedersehen im Jahr 1912. (Gleichzeitig schickte er 200 Franken – vermutlich an die Eltern – und 50 Franken an die Schwiegereltern.) Und ein Vierteljahr später schrieb er, wiederum an Paul, er wolle nun 9000 Franken zusammenbringen, so dass sie dann nach Europa könn[t]en wenn möglich vor 1912, aber bereits im Monat danach wurde er konkret: vor 15. Juli 1910 auf Wiedersehen. – Im Januar 1910 überwies er an den Vater 9000 Franken7, und zwei Monate später adressierte er die letzten drei Briefe an zwei Brüder und an den Vater, worin er mitteilte, sie sollten auf Antwortbriefe verzichten.

Wie spät der Entscheid fiel, illustriert auch eine Reise nach Tucuman und in den Chaco8 im April 1909. Warum er elf Monate vor der Rückkehr in die Schweiz so weit reiste, erklärt vielleicht die Bezeichnung Unternehmungs Spekulationsreise. Bei Johann Christian Theler ist es nicht abenteuerliche Spekulation, wenn man vermutet, dass er sich nach einer neuen Erwerbsmöglichkeit umsah. Auch dass man inzwischen einen Landwirtschaftsbetrieb führte, der der 14-köpfigen Familie ein gutes Einkommen sicherte, und also für einen Neuanfang keine Notwendigkeit bestand, säbelt die These nicht um. Das Fazit der Reise lautete, er habe lediglich Sachkenntnisse gewonnen, in Tucuman solche über Schlachtvieh und Käse, im Chaco welche über Holz. Vielleicht unternahm er die Reise in der Tat hauptsächlich aus dem Bedürfnis heraus, vor der Rückkehr in die Schweiz noch einen anderen Teil Argentiniens kennen zu lernen. Aber warum dann die oben genannte Bezeichnung, und warum sammelte er unterwegs wirtschaftliche Daten, wenn er nicht mit einem Neuanfang spekulierte?

Übrigens fragt man sich hier, wer während seiner Abwesenheit den Betrieb führte, wo doch nur schon das Melken und die Milchverarbeitung äusserst arbeitsintensiv waren. Ausser der zweimaligen Erwähnung, man habe auf dem Hof einen Knecht, liefern die Texte darüber keine Informationen. Von den zwölf Kindern waren fünf zu diesem Zeitpunkt zwischen 14 und 21 Jahren alt, sie waren also junge Erwachsene oder Teenager. Auch wenn vier von ihnen Frauen waren, ist anzunehmen, dass sie alle in der Lage waren, ebenso viel Arbeit zu leisten wie ein Knecht.

Der im Kalender genannte Verkaufspreis von 6000 Pesos pro Konzession entsprach nahezu dem achtfachen des Kaufpreises. (Wie wir wissen, bezahlten die Thelers für acht Konzessionen 6600 Pesos.) Ob die ins Land gesteckte Arbeit einen so viel höheren Verkaufspreis rechtfertigte, sei dahingestellt. Jedenfalls fand Theler einen Pächter, aber keinen Käufer.

Die Erwartung, nach dem Verkauf erstmals eine schöne Summe Bargeld, ja ein kleines Vermögen in die Hand zu bekommen, dürfte auch ein Antrieb gewesen sein, das Land zu veräussern und Ambrosetti zu verlassen. Wie erwähnt, begründete Theler den Entscheid insbesondere damit, den Kindern eine bessere Schulbildung zu ermöglichen und für sich selber beim Bau der Lötschbergbahn Verdienst zu finden.9 Das klingt überzeugend, war aber wohl nur ein Teil der Wahrheit. Gerade die sog. Unternehmungs Spekulationsreise erscheint als ein Versuch, anderswo in Argentinien noch einmal neu anzufangen. Ausgestattet diesmal mit einer soliden Kapitalbasis. (Es wurde weiter oben dargelegt, dass die Einkünfte über die Jahre hinweg in die Schuldentilgung und in Anschaffungen flossen, so dass selbst für bescheidenen persönlichen Konsum kaum Geld übrig war.)

In gewissem Sinn war und blieb Johann Christian Theler ein Abenteurer, zumindest jemand, der Herausforderungen suchte. So gesehen, hatte er in Ambrosetti sein Ziel erreicht; er bekam Lust auf Neues – in Argentinien oder in der Schweiz. Welches Potenzial er im Umfeld des Lötschberg-Bahnbaus erkannte oder vermutete, wird sich zeigen. Schliesslich war sein Startkapital jedoch wesentlich kleiner als die hunderttausend Franken (1 Peso entsprach umgerechnet 2 Franken), die er mit dem Verkauf des gesamten Besitzes einzunehmen hoffte. In die Schweiz mitnehmen konnten sie nur den Erlös aus dem Verkauf des Viehbestands, der Werkzeuge und Maschinen sowie Einnahmen aus den landwirtschaftlichen Erträgen der vorangegangenen Jahre.


  1. Buttermilch ist ein Nebenprodukt bei der Butterherstellung. Wenn das Milchfett als Butter aus der Milch extrahiert wurde, bleibt (fettarme) Buttermilch zurück, die zu Magerkäse verarbeitet werden kann. ↩︎

  2. Gemeint ist ein Ausweis, der belegt, dass man eine bestimmte gewerbliche Tätigkeit ausüben darf. ↩︎

  3. Im Vergleich zu Thelers Buchhaltung, sprich Kalender, war das ein überhöhter Pachtzins. Die ausgewiesenen Reingewinne waren nie so hoch. Wie sollte ein Pächter diese Summe über die eigenen Lebenshaltungskosten hinaus erwirtschaften? ↩︎

  4. Zu diesem Zeitpunkt hatte Frau Theler 13 Geburten hinter sich (eine 14. Sollte noch folgen). Der noch im Wallis geborene Sohn Meinrad starb, 5-jährig, im Februar 1897 nach 16-tägiger Krankheit. Theler schreibt, die Krankheit werde hipoterischer Krup genannt. Im Juni des folgenden Jahres wurde der nächste Sohn geboren, den sie wiederum auf den Namen Meinrad tauften. ↩︎

  5. Gemäss der seit 1897 dokumentierten Viehzählung (damals 55 Stück Rindvieh und 5 Pferde) besassen die Thelers im Jahr 1909 283 Stück Rindvieh. Ein Jahr zuvor gehörten ihnen 56 Pferde. Auch die Tierverluste sind verzeichnet. Die Zahl verlorener Tiere bewegte sich zwischen 2 (1898) und 68 Tieren, nämlich 42 Kälber, 9 Kühe, 9 Jungstiere, 8 Pferde (1909). Gesamtverlust in all den Jahren: 231 Tiere im Wert von 4000 Pesos. ↩︎

  6. Das Geld könnte bestimmt gewesen sein für den geplanten oder bereits begonnenen Bau eines Gasthauses in Ausserberg, worüber es allerdings weder im Kalender noch in den «Erinnerungen» irgendeinen Hinweis gibt. ↩︎

  7. Das entsprach 18'000 Schweizer Franken. Damit könnte das eben fertiggestellte ‘Gasthaus zum Bahnhof’ in Ausserberg finanziert worden sein. Die Thelers wurden unmittelbar nach ihrer Rückkehr ins Wallis dort Kostgeber für italienische Bauarbeiter. Rätselhaft bleibt, warum Theler kein Wort verliert über das Bauprojekt, das offenbar 1906 initiiert wurde. ↩︎

  8. Tucuman liegt etwa 500 km nordwestlich von Ambrosetti. Es ist die kleinste, aber (heute) eine der bevölkerungsreichsten argentinischen Provinzen. Die Provinz Chaco befindet sich östlich davon. Dazwischen liegt die Provinz Santjago del Estero. ↩︎

  9. Damals konnte Theler nicht ahnen, welchen Wohlstand seine Söhne mit der in der Schweiz erworbenen Bildung und Ausbildung später generieren würden. (Darüber später mehr.) Schulbildung nach Walliserart wollte er im Übrigen den Söhnen, nicht so sehr den Töchtern angedeihen lassen. Das war damals bekanntlich nicht nur im Wallis Usus. ↩︎