Der Umgang mit den 'Argentinos'

6. Juni 2021

Bis hierher könnte man den Eindruck gewinnen, dass in Ambrosetti die mehrheitlich aus dem Oberwallis stammenden Kolonisten unter sich waren, da sie ein bisher unbewohntes Gebiet landwirtschaftlich nutzten. Dem war nicht so; die inzwischen kolonisierten Gebiete westlich von Santa Fe waren schon vor der Ankunft europäischer Zuwanderer extensiv genutzt worden, und zwar hauptsächlich von spanischstämmigen Viehbesitzern, die kleinere und grössere Rinder- und/oder Schafherden weiden liessen. Die meisten dieser von Theler Argentinos genannten Ansässigen waren Mestizen, zumeist Nachfahren von Spaniern und Indianern.1 Die grossen Viehbesitzer waren nicht zugleich Bodenbesitzer; sie bezahlten diesen, z.B. den Gebrüdern Ambrosetti, pro Stück Vieh und Jahr einen Pachtzins. Mit der Vermessung und dem Verkauf des Bodens an die europäischen, insbesondere an die Walliser Kolonisten wurden die Viehbesitzer verdrängt, weideten ihre Herden aber weiterhin in nächster Nähe, so dass es Kontakte zu ihnen gab. Theler bezeichnet die Argentinos als roh und zäh, hinterlistig und rauflustig, aber auch als gastfreundlich, sobald man zu ihren Wohnungen komme. Diese Siedler, die sich selber «Posteros» nannten, ernährten sich, behauptet Theler, zur Hauptsache aus Fleisch und Mate Tee. Das meist über offener Glut gebratene Fleisch schmecke vorzüglich. Auch Eier ässen sie, jedoch weder Brot, noch Milch, noch Käse. Einige von ihnen besassen Tausende von Rindern und Pferden sowie riesigen Schafherden2. Durch den Verkauf von Schlachtvieh kamen sie zu viel Geld. Sie wohnten in prächtigen Häusern und gaben enorme Summen aus für das reiterliche Outfit (incl. Sättel und Zaumzeug mit kostbaren Beschlägen). Der Wohlstand machte sie gemäss Theler stolz – und spielsüchtig. Letzteres würden sie bei Pferderennen, Hahnenkämpfen, beim Kartenspiel und bei Geschicklichkeitswettkämpfen ausleben. Die meisten Posteros besassen aber nur wenig Vieh, waren arm und miserabel gekleidet. Einige fristeten als Holzhacker und Fleischverschneider ihr Leben. Bei den Kolonisten waren sie verhasst, denn sie stahlen hin und wieder Vieh und blieben deshalb stets gefährliche Gegner, insbesondere für jene Kolonisten, die es nicht verstanden, sich mit ihnen zu arrangieren. Dass man auch mit den ärmeren Argentinos durchaus einvernehmlich umgehen konnte, erläutert Theler an einem Beispiel:

Eines Tages fehlte uns eine fette Kuh. Sofort ging ich auf die Suche und fand nichts. Meine Vermutung, die ist gestohlen, ging ich in den Mald [?], wo ich ahnte, der Dieb (einer meiner Nachbarn) habe die Haut dort verkauft, wo ein Fellhändler war. Richtig, ich fand die Haut, und der Händler bezeichnete mir Ramon Muga (den ich im Verdacht hatte); [der] habe die Haut heute Morgen hierhergebracht. Sogleich fuhr ich zum Comisario und zeigte den Fall an. Dieser gab mir den Rat, ja schön ruhig zu sein und Muga nicht [zu] stören; er wolle die Sache in die Hand nehmen. Nun gut, ich blieb ruhig und der Comisario auch. Folgendes Jahr passierte die nämliche Geschichte. Wieder eine Kuh weg, und ich blieb ruhig, zeigte den Fall nicht an. Kurze Tage nach dem Weggang meiner Kuh verlor Herr Stepfer einen Ochsen. Bei dessen Wegtreiben wurde Muga erwischt. Muga kam vor Gericht in Aruso. Beim Verhör bekannte Muga unter anderem, er habe auch dem Theler 2 Kühe gestohlen. Muga wollte mit seinem ehrlichen Bekennen seine Strafe gemildert haben. Wie das so üblich war, Diebe für einige Zeit einzustecken, kam Muga ins Press in Santa Fe. Nach einigen Monaten kam der gebüsste Muga zurück und wurde angestellt beim Comisario von Ambrosetti als Soldan (Soldat).

Zum ersten Mal, als ich Muga antraf in der Politscha, sagte ich leise zu ihm: Du, du weißt, ich bin ein armer Mann und habe grosse Familie, Kühe musst du mir nicht mehr stehlen, denn die sind der Unterhalt meiner Familie. Obendrein bezahlte ich ihm seinen Wein und stiess auf die Gesundheit an. Muga [hat] voller Freude gelacht und gab mir das Versprechen, nicht mehr zu stehlen. Von da an habe ich kein Vieh mehr verloren. So und ähnlich muss man mit den Posteros umgehen, wenn man nicht noch das Leben riskieren will. Tatsächlich seien schon einige Gringos (so nennen die Posteros die Einwanderer) getötet worden, solche nämlich, die es nicht verstanden, friedlich mit ihnen auszukommen.

Wenn ich Johann Theler als oftmals zu gutgläubigen Menschen bezeichnete und als Vater, der zu wenig auf die Bedürfnisse der Frau und der Kinder Rücksicht nahm, so sehen wir im eben Geschilderten die positive Seite seines Charakters, die Freundlichkeit und den Gerechtigkeitssinn.


  1. Vor dem Eintreffen der Spanier auf dem argentinischen Territorium lebten im Gebiet 30 Ethnien. Heute sind nur wenige Argentinier ausschliesslich Nachkommen der indigenen Bevölkerung, was zum einen an der damals dünnen Besiedlung liegt und zum andern an der Tatsache, dass die Ureinwohner von den Spaniern und später von den Argentiniern buchstäblich ausgerottet wurden. Manche der ersten Walliser Zuwanderer profitierten vom Wissen der indigenen Bevölkerung, insbesondere wenn es darum ging, nach Wasser zu graben. Es gab jedoch vereinzelt Kolonisten, die Indianer kurzerhand erschossen, wenn sie sie beim Kartoffelgraben beobachteten. Dabei war das Sammeln von Früchten die Lebensgrundlage der Ureinwohner. ↩︎

  2. Die Grösse der Schafherden lässt sich erahnen, wenn man liest, wie beim Verkauf z.B. der Hälfte vorgegangen wurde: Man ritt einfach durch die Herde hindurch, worauf der Käufer den abgetrennten Teil wegtrieb. ↩︎