Kindheit in Ausserberg

5. Juni 2021

Schon Thelers Vater und Grossvater trugen den Doppelvornamen Johann Christian. Beide bestimmten das Geschick der Gemeinde Ausserberg mit. Der Grossvater liess als Gemeindepräsident die Pfarrkirche von Ausserberg bauen. Er starb 1854, nachdem er auf der Brücke bei St. German, von einem Hufschlag getroffen, in die hochgehende Rhone gestürzt und ertrunken war. Der Sohn Hanschristi1 erhielt während sieben Jahren bei seinem Onkel Paul Theler, Pfarrer in Grächen, eine gute Schulbildung, so dass man ihm schon als 15-Jährigem die Aufgaben des Gemeindeschreibers und Archivars übertrug. In der Folge wurden ihm weitere Ämter anvertraut; er war Waisenamtspräsident, führte die Zivilstandsbücher und war u.a. auch Steuerbuch-Schreiber, Revierförster und Alpinspektor.2

Maria Josepha Salzgeber, die Ehefrau des späteren Auswanderers, war die Tochter von Josef Salzgeber aus St. German, dessen Eltern mütterlicherseits aus Lichtenstein, väterlicherseits aus dem Vorarlberg zugewandert waren. Grossvater Josef war während der Kriegsjahre desertiert und um 1815 ins Wallis gekommen, wo er anfangs als Knecht sein Auskommen fand. Nach der Heirat baute er in Raron eine Schmiede- und Getreidemühle. Er und seine Frau, die sich als Berufsbäckerin einen Namen machte, wurden als erfolgreiche Gewerbetreibende geachtet und erhielten in der Folge das Bürgerrecht von Raron. Ihr Sohn Josef, der Vater von Maria Josepha, arbeitete als Landwirt und Fuhrmann. Maria Josephas Mutter war Kresenzia Theler, die Tochter von Joseph Theler (aus St. German) und Anna Sterren (von Ausserberg). Diese Theler-Familie war nicht verwandt mit den späteren Schwiegereltern von Maria Josepha. Letztere waren Theler von Neuhaus, sie selber mütterlicherseits verwandt mit der Familie Theler vom Bach.

Ausserberg

Die Gemeinde Ausserberg westlich von Raron ist ein Weilerdorf am Nordhang des Rhonetals. Sie befindet sich an der Bahnlinie Bern-Lötschberg-Simplon (BLS) und am Höhenweg Südrampe. Ausserberg war von jeher eine Siedlung, die sich aus Weilern, Gebäudegruppen und kleinen Dörfern zusammensetzte. Einige Fraktionen waren zeitweise selbstständig. Im 16. Jahrhundert setzte eine Konzentration auf Trogdorf, das heutige Ausserberg, ein. Dieses Zentrum befindet sich etwa 700 m östlich des Bahnhofs auf 1008 m ü.M.

Der Bahnbau um 1910 brachte grosse Veränderungen mit sich, insbesondere eine verbesserte Infrastruktur und neue Erwerbsmöglichkeiten, vorerst durch den Viehhandel. Seit der Eröffnung der Lonza-Werke in Visp wurden viele Einwohner Arbeiter oder Nebenerwerbsbauern. Die BLS legte sozusagen den Grundstein für den Wandel von einer auf Selbstversorgung ausgerichteten Landwirtschaft mit ausgebautem Bewässerungssystem hin zur Konsumwirtschaft.

Zur Bevölkerungsentwicklung: Um 1900 betrug die Einwohnerzahl 398, während des Bahnbaus stieg sie 1910 auf über tausend, zehn Jahre später hatte sie sich wieder mehr als halbiert (auf 458). Heute leben etwas über 600 Personen in Ausserberg.

Die Gemeinde gehört zur Region Jungfrau-Aletsch, die seit 1911 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde.

Von der Kindheit erzählt Johann Christian Theler in seiner «Lebens Geschichte» nur anekdotisch. Man darf annehmen, dass ihm der Erwerb schulischen Wissens leichtfiel, erwähnt er die Schule doch mit keiner Silbe. In Erinnerung blieben ihm ein paar ungezügelte Kinderstreiche. Sie zeugen von Neugierde ebenso wie von der Lust an Spitzbübereien. So etwa, als er zu Weihnachten eine Trompete geschenkt bekam, sie jedoch, weil er bloss einen Ton mit ihr hervorbrachte, mit einem Stein flachhämmerte, bis der Einton gänzlich verschwand. Da habe er zum ersten Mal mit der Birkenrute Bekanntschaft gemacht.

Einmal sollte er bei Einbruch der Nacht zwei Mädchen auf dem Weg nach Finnu, einem Weiler der Gemeinde Eggerberg, begleiten. Er sei damals neun Jahre alt und schon ein treuloser Spitzbub gewesen. Die Begleitschaft der Mädchen dauerte ungefar die hälfte des Weges, plötzlich marschierte ich in der Tunkelheit der Nach[t] voraus, bis ich den Augen der Mädchen entschwand, einige Seitensprünge u[nd] auf Umweg retour ohne verabscheiden [!]. Die Mädchen mussten den Weiterweg selbst finden.3 Besonders bemerkenswert war, dass das jüngere der beiden Mädchen Maria Josepha Salzgeber war; sie wurde später seine Frau.

Der kleine Hanschristi war gern grosszügig. Eine solche Geste gegenüber einer armen Familie stiess beim Vater jedoch auf wenig Verständnis. Als ihm in einem Frühjahr ein Lämmchen geschenkt wurde, gab er dieses nach der Alpsömmerung als wohlgewachsenes Schäfchen [...] der ärmsten Familie in unserer Gemeinde. Wohl nicht ganz uneigennützig, hatte er doch gehört, das Glück werde einem im späteren Leben hold sein, wenn man das erste eigene Schaf den Armen verschenke. Narrheit nannte der Vater solches Tun. Zu Herzen nahm sich der Junge aber Vaters Rat, Geld nicht zu verschwenden. Als er einmal in Visp für eine Besorgung 20 Rappen geschenkt bekam, kaufte er sich dafür eine Pfiffa (zum Pfeifen, nicht zum Rauchen). Der Vater schimpfte, er hätte besser Schulmaterial gekauft. Auf seine Antwort, das sei ja nicht viel Geld, bekam er zu hören, es seien immerhin zwei Zehner, und der gerade anwesende Störschuhmacher stützte dies mit der Bemerkung, es seien sogar vier Fünfer. Dies zeigt, wie haushälterisch man auch in einer einflussreichen Familie mit Geld umging und für wie wertvoll jedes Geldstück gehalten wurde. Jedenfalls beendet der Schreiber die Anekdote mit dem Fazit, dass er fortan nicht mehr so leicht Virlifanz gekauft habe. Genauso wenig wie sich aus der dorfpolitischen Einflussnahme von Grossvater und Vater auf Wohlstand der Thelers schliessen lässt, ist abzuleiten, dass man der Familie im Dorf besondere Wertschätzung entgegengebrachte. Zumindest andeutungsweise liefert Thelers Erzählung dafür einen Beleg. Als Jugendlicher sei er auf seine schöne Stimme stolz gewesen. Weil er deshalb gerne im Kirchenchor mitgesungen hätte, habe er sich auf die Kirchenempore geschlichen. Dort sei aber aufs Gehässigste die Familienpolitik zum Vorschein gekommen. Mit der Abfuhr «ihr Theleni heit hie nix ztuö» (ihr Thelers habt hier nichts zu suchen) sei er weggeschickt worden.

Der Vater glaubte den Kindern vorschreiben zu müssen, mit wem sie Freundschaften pflegen sollten. Als Hanschristi öfters mit dem etwa gleichaltrigen Severin Martig unterwegs war, gefiel ihm dies nicht. Man darf davon ausgehen, dass der Junge sozialer Gründe wegen nicht genehm war. Scheinbar grundlos erklärte der Vater, solche Kameradschaften führten zum Verderben. Der Sohn widersetzte sich und wusste seine Haltung auch zu begründen: Das ist ein lustiger Bub, springt in allen Dorfgassen herum, so wie andere auch und [ist] nebst dem unternehmungslustig wie ich auch, und das passt mir.

Unternehmungslust entwickelten die zwei Jugendlichen in durchaus produktivem Sinn. So kamen sie auf die Idee, mittels einer Spaltsäge aus Baumstämmen Bretter zu sägen. Das Werkzeug dafür hatten sie nicht und auch das Geld fehlte, um ein solches zu beschaffen. Nun ging der junge Theler keck zum Pfarrer und erzählte dem von ihrem Vorhaben. Der Geistliche war dergestalt beeindruckt, dass er den Burschen 20 Franken gab. Flugs rannte [Theler] nach Visp in die Eisenhandlung und kaufte das Sägeblatt, eine Kette, Schnur und roten Ocker. Dann zum Schmid für die nötigen Kammen und Kettehaken.4 Aber sie brauchten auch ein Sägegestell5. Das Geld war inzwischen aufgebraucht. Dass Theler den Bock selber baute, kam ausser Betracht, denn die Väter durften von ihrer Absicht nichts erfahren. Sie wollten nichts verraten, bevor sie das fertige Werkzeug erfolgreich getestet hatten. Und sie hatten Glück; ein Mann aus dem Dorf – Theler nennt ihn Z’Klei Späckji – stellte ihnen das Gestell her. Nun seien sie, schreibt er, mit der Säge fast im Galopp zum Ort gerannt, wo sie Bretter bereitgelegt hatten, die sie nun zu Zaunlatten sägen wollten.

Gleich machten wir den Bock zurecht. Die Latten mit den Äxten auf zwei Seiten zurechtgemacht, so, wie wir gesehen, wie es andere Säger machen. Zwei und zwei Latten zusammengebunden, damit selbe weniger wagle [in Schwingung geraten], fest gekettet auf dem Bock zurechtgemacht.

Nun, jetzt, weder Sefi noch ich hatten je einen derartigen Sägeschnitt getan. Jetzt probierte Sefi oben, ich unten, 1 Schnitt, 2ter Schnitt, 3. und 4. Schnitt u.s.w. Schnitt für Schnitt und die erste Latte war mitten durchgeschnitten. So ging’s weiter, bis alle Latten zu unserer Befriedigung durchgeschnitten waren.

Nun hatte er auch keine Furcht mehr vor dem Vater. Stolz und jubelnd seien sie mit dem geschulterten Werkzeug zu ihm gegangen und hätten verkündet, er solle sich am Sägeplatz ihre Arbeit anschauen gehen.

Der Vater war gefangen und konnte nicht viel erwidern. Von da an wagten wir uns ans Bretterschneiden. Sogar ¼ Zoll dicke Bretter durften wir sehen lassen. Die Kameradschaft war gefestigt; der Vater hat[te] nichts mehr dagegen. Severin wurde später in den Gemeinderat gewählt und amtete als Waldpräsident. Auch mir wurde natürlich auch später das Amt als Gemeinderat und Waisenamtspräsident anvertraut. Wer weiss, ob nicht unsere Spaltsagerei und ungebändigter Optimismus solche Ehrenposten verschafft hatten.

Auch um die erzieherische Art des Vaters zu illustrieren, erzählt Theler eine Episode jugendlichen Leitsinns. Er und sein Bruder Eduard waren auf Geheiss der Mutter mit Rückentragkörben im Wald unterwegs, um Brennholz zu sammeln. In einer Schlucht, wo regelmässig Holz geschlagen und geschleppt wurde, lagen neue Scheite und Päglete [Holzstücke]. Sie liessen neben Kleinholz auch die Päglete mitgehen. Als der Vater abends heimkehrte, wurde er im Dorf von Lung Leiggener angesprochen: Er habe in der Schlucht frisch gespaltenes Brennholz zurückgelassen, aber die Päglete heint mer situ [seither] dini Buübini weggnu. Die hätti de ich scho sälber gereicht. Zu Hause habe der Vater sie mit ernster Miene gefragt, wo sie die neuen Päglete gnu hätten. Ganz kaltblütig habe er, der Ältere, geantwortet: In der Fisteru Schluöcht mitsch im Schleif heintsch glägu. So, als ob es ganz selbstverständlich wäre, dergleichen Holzarten auf Gemeindeboden ohne weiteres mitgehen zu lassen. Daraufhin erläuterte ihnen der Vater den Sachverhalt: Die Päglete sind dem Langgu, sind sein Eigentum, trotzdem selbe mitten im Schleif gelegen haben. Sammelt alle sauber und tragt selbe morgen in aller Frühe zum Trog und schüttet sie dem Langgu in seine Holzschrota.

Am gleichen Abend noch füllten sie zwei Tragkörbe mit dem entwendeten Holz und trugen sie schon mal in die Nähe von Leiggeners Haus. Weiter getrauten sie sich nicht zu gehen; sie fürchteten, von ihm gesehen zu werden. Leiggener galt unter den Buben als ganz fürchterer [gefürchteter] Mann.

Morgens haben wir uns nicht verspätet und gingen noch in der Dunkelheit eiligst mit den Pägleten zum Trog (Trogdorf). O, wenn der Langgu uns nicht sieht! Richtig, die Haustür war noch zu. Leise entleerten wir unseren Rückentragkorb vor die Haustür und verschwanden blitzschnell. Gott sei Dank, der Langgu hat uns nicht gesehen. Dies war für uns viel die grössere Strafe, als wenn der Vater uns sonst tüchtig durchgeschmiert hätte. Von da an wussten wir das Eigentumsrecht.


  1. So lautete die umgangssprachliche Form von Johann Christian. Entsprechend schreibt er, wenn von seiner Frau die Rede ist, Zmarjosi statt Maria Josepha ↩︎

  2. Das mag ein Hinweis sein für die ausgeprägte Schreibkompetenz in der Familie Theler. Diese ist jedenfalls auch dem Auswanderer Johann Christian eigen. Seine Texte, obwohl grammatikalisch und orthografisch fehlerhaft, sind sprachlich ausdrucksstark. ↩︎

  3. In der Folge werden die Zitate grammatisch und orthografisch in heutiger Schreibweise wiedergegeben, soweit es nicht darum geht, sprachliche Eigentümlichkeiten unverändert zu lassen.. ↩︎

  4. Mittels einer zuvor durch ockerfarbene Kreide gezogene Schnur wird dem Stamm entlang die Markierung fürs gleichmässige Sägen angebracht. (Durch Zupfen der gespannten Schnur gelangt der Kreidestaub aufs Holz.) Was es mit Kammen und Kettehaken auf sich hat, müsste man bei einem betagten Zimmermann in Erfahrung bringen. ↩︎

  5. Das Gestell, ein Holzgerüst, auf das der Stamm zu liegen kommt, macht es möglich, dass die Spaltsäge nach unten gezogen werden kann. Fürs Sägen braucht es zwei Personen, die eine auf, die andere unter dem Gestell. Wer oben steht, zieht die Säge nur hoch; gesägt wird beim Herunterziehen. ↩︎