Die Reise

5. Juni 2021

Gemeinsam mit sechs Familien aus dem Vispertal fuhren die Thelers am 12. Dezember 1892 mit der Eisenbahn über Pontarlier und Paris nach Le Havre, wo sie zwei Tage später auf dem Fracht- und Passagierdampfer Dom Pedro die Fahrt über den Atlantik antraten. Die Reisekosten 3. Klasse betrugen pro erwachsener Person 190 Franken, für jedes Kind einen Viertel davon. Am 14. Dezember, 26 Tage später, erreichte der Dampfer Buenos Aires.

Siehe auch: Reisebericht von Johannes Bodenmann

Die Dom Pedro geriet schon im Golf von Biskaya während zweier Tage in einen Sturm. Was man nicht festgebunden hatte, sei von einer Wand zur anderen geschleudert worden.

Fürs Essen teilte man die Passagiere in 10er-Gruppen ein. Jede Gruppe erhielt Schüsseln, Weinkanne, Schöpfkelle, Geschirr und Besteck, alles aus verzinntem Blech. Es war Wegwerfware, gedacht nur für die einmalige Fahrt. Zur Zehnergruppe vervollständigt wurde die Familie Theler durch sieben Franzosen. Die holten in der Küche das Essen, deckten auf dem Fussboden den Tisch und wuschen am Ende im Salzwasser das Geschirr. Um die Schüsseln gruppierten sich die Leute ringsum und schöpften, solange Vorrat. Und dieser Vorrat war rasch aufgegessen; die sieben Männer sollen einen gesegneten Appetit gehabt haben. Für die Thelers blieb kaum was übrig. Auch nichts von den sonntags als Dessert verteilten gekochten Zwetschgen. Man habe sich nicht ausreichend verständigen können, schreibt der Erzähler. Er begründet es mit dem Mangel an Sprachkunst. Wie war das möglich bei ihm, der wenige Jahre zuvor in mehreren Schreinereien in Sitten nach Arbeit gefragt hatte? Sprachgewandt wie er war, hätte er die Ansprüche seiner Familie auch ohne viel Französisch verständlich machen können. Allem Anschein nach kümmerte er sich auf dem Schiff zu wenig um die Belange der Frau und der Kinder. Dass er sich gegen aussen viel seltener behauptete, ja, dass er oftmals überaus vertrauensselig agierte, dieser Eigenart wird sich in seiner Geschichte noch öfters zeigen. Die Begründung, sie hätten die Franzosen respektiert und darum nicht reklamieren wollten, überzeugt nicht. Hin und wieder wurde dann Maria Josepha zur Nothelferin. Wie hier: Nasenrümpfend steht meine Frau in der Nähe, die Kinder an der Hand, spöttisch zusehen[d], wie das Gericht unsern Franzosen schmeckt. Und sie wusste das Problem auch zu lösen. Man hatte sich vor der Abreise im Wallis gut verprofiantiert, insbesondere mit Gommer Käse, Roggenbrot, Kondensmilch und eingesottener Butter1. Nun gaben sie jeweils Brot, Fettkäse und Bratbutter in eine Schüssel, stellten sich damit vor die Küchentür, wo ihnen der deutschsprachige Koch heisses Wasser darüber goss. Wir liessen dies einen Augenblick stillstehen, dann gings los. Das Gericht schmeckte vorzüglich, und wir waren gut dabei. Bei der Ankunft in Buenos Aires waren die Vorräte denn auch aufgebraucht.

In Buenos Aires hielten sie sich nur drei Tage auf. Quartier bezogen sie im Hotel Deutscher Bund. Ein vielgereister Mann aus der Walliser Gemeinde Embd hatte ihnen schon auf dem Schiff manchen Rat gegeben. Theler bezeichnet ihn als Auslandschweizer, der Südamerika bereisen wolle. Der Mann begleitete sie auch bei den ersten Aktivitäten auf südamerikanischem Boden. Später erzählt Theler allerdings, er habe die Gruppe in Rafaela beinahe fluchtartig und ohne Abschied zu nehmen verlassen. Er habe die Seinigen in Felicia besuchen und von den Auswanderern nichts mehr hören wollen.2

Während der drei Tage in Buenos Aires bewegte sich die Familie nur in der unmittelbaren Umgebung des Hotels, was auch damit zusammenhängen mochte, dass die Kinder nach der Überfahrt noch immer kränkelten. Als Besonderheit fielen ihnen die Holzstrassen aus Hartholz auf. Sie hätten aus Holzwürfeln von einem Dezimeter Kantenlänge bestanden. Anfänglich meinten sie, das sei ein ewiges Werk; einige Jahre später erfuhren sie, dass die Würfel inzwischen verfault waren.

Eisenbahnen im damaligen Argentinien

Im Bestreben, die Landwirtschaft zu entwickeln und Argentinien zu einem Agrarexportland zu machen, hatte man in der 2. Hälfte des 19. Jhs den Eisenbahnbau vorangetrieben. Um die Jahrhundertwende war das Land bereits ein bedeutender Agrarexporteur. Um 1915 bestand ein Streckennetz von 35'000 km. Die Züge brachten das Getreide zu den Häfen. Eisenbahnverbindungen bestanden aber auch nach Brasilien, Paraguay, Bolivien und selbst über die Anden nach Chile.

Als die Immigranten in den Zug einstiegen, der sie nach Santa Fe und weiter nach Rafaela bringen sollte, staunten sie über die geräumigen Eisenbahnwagen und über das erlesene Interieur derselben. Theler nutzte die Zeit bis zur Abfahrt dazu, den Bahnbetrieb näher anzusehen. Und verpasste prompt beinahe das Einsteigen. Er schaffte es gerade noch in den letzten Wagen des voll besetzten Zuges. (Jugendliche Unbekümmertheit dürfte dabei mit im Spiel gewesen sein.) Der Versuch, im Zug bis zu seiner Familie vorzudringen, endete bei einem Wagen mit verschlossener Tür. Weil es ein Nachtschnellzug war, dauerte es lange, bis der Zug auf einer grösseren Station Halt machte. (Frau und Kinder mussten befürchten, der Mann bzw. Vater sei auf dem Bahnhof in Buenos Aires zurückgeblieben. Das versetzte sie in Angst und Schrecken.) Als er dann endlich seine eigene Reisegesellschaft fand, hätten die Mitreisenden ihn am liebsten aus dem Wagen geworfen mit den Worten: Schämst du dich nicht; siehe wie deine Kinder und deine Frau weinen. Dass die Leute so reagierten, bezeichnet Theler auch ein halbes Jahrhundert später noch als Kuriosum. Es zeugt von wenig Empathie, wenn er schreibt, weil es bis zum ersten Halt des Zugs so lange gedauert habe, bekam meine Reisebekanntschaft Zeit, unruhig zu werden. Weil der Zug in rasendem Tempo unterwegs und schon weit vorangekommen war, sei allmählich Vergessenheit in die Reise gekommen.


  1. Eingesottene oder Bratbutter (auch: Butterschmalz) ist aus Butter durch Entfernen von Wasser, Milcheiweiss und Milchzucker gewonnenes Butterfett, das man zum Braten, Kochen und Backen verwendet. Was das Roggenbrot betrifft, so backte man in den Oberwalliser Dörfern das Roggenbrot bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts im dörflichen Backhaus nur alle zwei Monate. Anderes als Roggenbrot – den Roggen baute man selber an – gab es nur zu besonderen Gelegenheiten. Es war mit der Zeit so hart, dass man es mit dem Brothacker ‚abwängen' musste. (Vgl. G.K. Das Binntal, a.a.O., S.170.) ↩︎

  2. Rafaela, heute mit 90'000 Einwohnern die drittgrösste santafesinische Stadt, liegt 100 km westlich von Santa Fe. Der Ort Felicia befindet sich ungefähr 20 km östlich davon. ↩︎